Holocaust-Überlebende Irene Butter: Glück, Wunder - und ein Sieg
Die Holocaust-Überlebende Irene Butter hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben in den USA aufgebaut. Erst auf Bitten ihrer Tochter erzählt sie von Nazi-Deutschland. Von Verfolgung, Vertreibung, dem KZ Bergen-Belsen - und ihrer Rettung.
Irenes neues Leben beginnt, als sie am 25. Dezember 1945 ganz allein aus einem Zug in der New Yorker Penn Station steigt. Sie ist gerade 15 Jahre alt, hat ihren Vater verloren und Mutter wie Bruder krank in einem Hospital in Europa zurücklassen müssen. Sie besitzt kein Geld, keinen Pass und kein Zuhause. Die kleine Tasche mit ein paar Pullovern und Kleidern ist das einzige, was ihr geblieben ist. So erzählt sie es im Podcast "Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?" von NDR Info, dem NDR Audio Lab Think Audio und dem Jugendportal funk im Gespräch mit Hamburger Schülerinnen.
Neustart bei den fremden Verwandten in New York
Immerhin weiß Irene damals, dass sie gleich ihre Verwandten treffen wird. Eine jüdische Flüchtlingsorganisation hat die Überfahrt in die neue Welt organisiert. Und da stehen sie auch schon am Gleis: ein fremder Mann, eine fremde Frau und deren 20-jährige Tochter, gehüllt in dicke Wintermäntel und Wollmützen. Sie nehmen zusammen die U-Bahn in die Bronx, wo sie wohnen. Die Häuser erscheinen Irene riesig, als sie die Straßen hinuntergehen.
Die Verwandten sind - wie Irene - jüdische Flüchtlinge. In Deutschland waren die Kaplans wohlhabend gewesen, ihnen gehörte eine Bürstenfabrik in Frankfurt. Hier in New York ist ihr Appartement klein, zwei Zimmer für nun vier Personen. Sie essen gemeinsam zu Abend an dem kleinen Esstisch in der Küche, als die Vergangenheit sie zum ersten Mal heimsucht.
Fast 30 Jahre über die eigene Vergangenheit geschwiegen
Irene will nur ins Badezimmer gehen, doch sie macht eine Handbewegung, die die Familie irritiert. Sie rollt die Hosenbeine hoch, bevor sie aufsteht. Alle starren sie an. Warum sie das mache? Das sei im Konzentrationslager so üblich gewesen, sagt Irene. Die Waschräume dort seien doch voller Dreck gewesen. "Jetzt bist Du aber hier", erwidert ihr Onkel: "Sprich nicht mehr über die Vergangenheit, denk nie mehr darüber nach." Das Mädchen spürt, dass er ihr helfen will.
Fast 30 Jahre lang wird sie von nun an - wie so viele andere Holocaust-Überlebende -schweigen. Das ändert sich erst, als ihre Tochter sie 1972 zum Reden bringt. Seitdem hält Irene Butter Vorträge in Schulen und Gedenkstätten überall in Amerika. Mit 87 Jahren veröffentlicht sie mit "Shores Beyond Shores. From Holocaust to Hope" ein Buch über ihre Kindheit, das nun auch auf Deutsch erschienen ist: "Wir hatten Glück, noch am Leben zu sein. Entkommen aus Bergen-Belsen". Und jetzt, mit 91 Jahren, hat sie sogar noch einen Podcast aufgenommen. Was für ein Wandel.
Sorglose Kindheit in Berlin
Irene Butter kommt am 11. Dezember 1930 in Berlin als Irene Hasenberg zur Welt. Ihre Familie ist wohlhabend, der Großvater besitzt eine Bank, der Vater arbeitet dort im Management. Irene wächst in einer großen Altbauwohnung in Wilmersdorf auf, zusammen mit ihren Eltern John und Gertrude, ihrem zwei Jahre älteren Bruder Werner, den Großeltern und zwei Hausmädchen. An den Wochenenden gehen sie oft in den Zoo oder pflegen ihren Schrebergarten am Stadtrand. Die Ferien verbringen sie an der Ostsee. Es sind glückliche Jahre.
Erste Flucht vor den Nazis 1937 nach Amsterdam
Doch dann kommen die Nationalsozialisten 1933 an die Macht. Überall wehen plötzlich Hakenkreuzflaggen, Werner wird nach der Schule verprügelt, der Vater verliert seinen Job. John Hasenberg beschließt, auszuwandern, und zieht mit seiner Familie 1937 nach Amsterdam. Alles scheint wieder gut zu werden. Die Hasenbergs leben in einer hübschen, kleinen Wohnung, die Kinder lernen Niederländisch - und finden bald viele Freundinnen und Freunde.
Aber diese gute Zeit dauert nicht an. 1940 überfallen die Deutschen die Niederlande - und alles geht wieder von vorne los. Jüdinnen und Juden dürfen nicht mehr ins Theater, ins Schwimmbad oder Bahn fahren. Selbst die Fahrräder werden ihnen weggenommen. Und natürlich verliert der Vater wieder seinen Job. Im Sommer 1942 beginnen auch dort die Deportationen.
Deportiert ins Durchgangslager Westerbork
Am 20. Juni 1943 klopfen die Nazis auch bei ihnen an die Wohnungstür. Sie brüllen "Schnell, schnell! Raus, raus!" Eilig ziehen die Hasenbergs ganz viele Kleider übereinander an, denn sie dürfen jeder nur einen Rucksack mitnehmen. Am Bahnhof stehen Viehwaggons, in die sie gedrängt werden. Die Fahrt geht ins "Polizeiliche Durchgangslager Westerbork", ein Nazi-Lager nahe der deutsch-niederländischen Grenze.
Montags um 23 Uhr drohen Auschwitz und Sobibor
Rückblickend beschreibt Irene Westerbork als einen perfiden Ort. Es gibt in diesem Lager viele Baracken für Zehntausende Insassen, ein paar Schienen in der Mitte, auf denen jeden Sonnabend ein Zug einfährt - und einen geradezu normalen Alltag. Die Erwachsenen gehen zur Arbeit, viele Kinder in die Schule. Doch jeden Montag um 23 Uhr machen die Stubenältesten die Lichter in den Baracken an und lesen lange Listen vor mit Namen von Menschen, die am nächsten Tag in einen Zug "nach Osten" steigen müssen. Dorthin, wo die Vernichtungslager der Nazis liegen. Auschwitz, Sobibor.
Die Lagerleitung teilt den Insassen nicht mit, was dort passiert. Aber es gibt Gerüchte. Der Zug wird jede Woche von einem Reinigungsteam aus Häftlingen gereinigt - und die finden kleine Zettel. "Und da wussten wir", sagt Irene Butter, "dass in Auschwitz Gaskammern sind." Wer kann, versucht, von diesen Namenslisten gestrichen zu werden.
Bergen-Belsen: Sammellager für "Austausch"-Juden
John Hasenberg ist einer der wenigen Insassen, denen das gelingt. Auf verschlungenen Wegen hat er für seine Familie noch in Amsterdam ecuadorianische Pässe bestellt, die wie durch ein Wunder noch rechtzeitig im Lager eintreffen. Er legt sie der Lagerleitung vor. Die meldet die Familie daraufhin für den "Austausch" an: Die Deutschen versuchen, in Südamerika internierte Landsleute heimzuholen, indem sie sie gegen Jüdinnen und Juden mit südamerikanischen Pässen "eintauschen".
Am 17. Februar 1944 fährt die Familie in einem Zug in ein Lager in der Lüneburger Heide. Dort, im Konzentrationslager Bergen-Belsen, sammeln die Nazis die "Austausch-Juden", um sie den Alliierten gegen Geld, Kriegsgerät oder eben Deutsche, die im Ausland interniert sind, zum Tausch anzubieten. Auf der Fahrt sind die Hasenbergs noch guter Dinge, denn sie glauben an die nahende Freiheit. Doch als sie an der Rampe von Bergen-Belsen ankommen, werden sie von bellenden Schäferhunden und brüllenden SS-Leuten empfangen. "Alles war Angst", sagt Irene Butter.
KZ in Belsen auch ohne Gaskammern ein Ort des Todes
Das Konzentrationslager Bergen-Belsen hat keine Gaskammern, dennoch ist es ein brutaler Ort. Die Erwachsenen müssen hart arbeiten. Täglich lassen die SS-Leute die Insassen auf dem Appellplatz zum Abzählen antreten. In der Sonne, im Regen, im Schnee. Oft dauert das viele Stunden. Im Winter gibt es kaum mehr etwas zu essen, bald breiten sich Seuchen aus. Wenn Irene morgens aufwacht, blickt sie sich immer um: Sind sie noch alle am Leben? Vater? Mutter? Werner? "Wir haben irgendwann die Hoffnung verloren."
Algerien statt Südamerika
Doch am 19. Januar 1945 erscheint ein Mann in der Tür. Er sagt, alle Insassen mit südamerikanischen Pässen sollen sich melden. Irene und Werner müssen ihre schwerkranke Mutter zum Gleis tragen, auch der Vater schafft es kaum selbst, Wachen haben ihn kurz vor der Abreise noch zusammengeschlagen.
Die Reise in die Schweiz dauert vier Tage. In der zweiten Nacht stirbt der Vater. Irene Butter weiß noch genau, wie sie damals sagt: "Aber wir sind doch fast da." Als der Zug im süddeutschen Biberach hält, tragen Männer den Leichnam aus dem Waggon und legen ihn auf eine Bank am Gleis. Mutter und Bruder kommen in der Schweiz sofort in ein Hospital. Die 14-Jährige Irene übernachtet mit anderen Flüchtlingen in einem Pferdestall. Ein paar Tage später wird sie zur Weiterreise gedrängt. Irene wehrt sich und will bei ihrer Familie bleiben - "aber sie ließen mich nicht." Flüchtlingshelfer schicken sie in ein Lager nach Algerien, dann reist sie mit dem Schiff weiter nach Amerika, wo ihre New Yorker Verwandten leben.
Vereint in New York - aber in Albträumen kommen die Nazis
Im Januar 1946 darf sie endlich wieder in die Schule gehen. Dort lernt sie Jugendliche in ihrem Alter kennen, die über Nagellack und Lippenstifte sprechen, über Jungs, Kinofilme und Musik. Im Herbst kommen ihr Bruder Werner und ihre Mutter Gertrude nach New York. Sie ziehen in ein kleines Appartement in Queens. Das Leben ist jetzt stabil, aber nachts wird Irene von Albträumen heimgesucht, klopfen Nazis wieder an die Wohnungstür, wird sie wieder in einen Viehwaggon mit vielen anderen Menschen gequetscht.
"Du wirst meine Zeitzeugin sein"
Doch Irene macht weiter. Sie schließt Schule und College ab. Mithilfe eines Stipendiums bekommt sie 1954 einen Studienplatz an der renommierten Duke-University in North Carolina, studiert Ökonomie und heiratet einen Kommilitonen, den Psychologie-Studenten Charles Butter. Sie werden beide Professoren an der Universität Michigan nahe der US-amerikanischen Grenze zu Kanada und bekommen zwei Kinder.
Die schwarze Zeit in Deutschland scheint weit weg, als ihre elfährige Tochter Ella im Sommer 1972 aus der Schule kommt. Beim Mittagessen sagt sie den Satz, der Irene Butters Leben für immer verändern wird. "Mama", sagte Ella, "ich muss morgen einen Vortrag über den Holocaust halten. Und ich habe allen gesagt, dass du meine Zeitzeugin bist."
"Ich weiß bis heute nicht, wie ich Hunger beschreiben soll"
Irene Butter weiß noch, wie sie erstarrt. Sie versteht, dass ihre Tochter einen guten Vortrag halten will, und natürlich will sie ihr gerne dabei helfen. Aber was, wenn die Schüler lachen? Witze machen? Oder einfach nicht zuhören? In dieser Nacht schläft sie nicht. Am nächsten Tag begleitet sie ihre Tochter in die Schule. Die erste Dreiviertelstunde spricht das Mädchen über "Antisemitismus, Hitlers Eroberung Europas und die Konzentrationslager." Dann ist Irene dran. Eine Viertelstunde. Sie beschreibt, wie sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen in Holzbaracken gelebt und in Stockbetten geschlafen haben. Wie die Aufseher jederzeit reinkommen, jederzeit zuschlagen konnten. Sie spricht auch über den Hunger, so gut es geht jedenfalls. "Ich weiß bis heute nicht, wie ich Hunger beschreiben soll."
Die Jugendlichen sitzen auf ihren Plätzen und hören zu. Keiner spricht. Keiner lacht. Keiner albert herum. Irene Butter spürt, wie sehr sie verstehen wollen. Es ist das erste Mal, dass sie merkt: Aus dieser entsetzlichen Zeit könnte etwas Gutes entstehen. Ab da geht sie oft in Schulen und beginnt auch, Vorträge in Gedenkstätten und Universitäten zu halten.
Quäle keine Menschen - und mache immer weiter
Ihre Erzählungen verbindet sie mit Botschaften an ihr Publikum. Was gibt uns diese Zeit mit? Was können wir aus ihr lernen? Sei niemals ein Mitläufer. Quäle keine Menschen, unterdrücke niemanden, diskriminiere niemanden, gebe jedem eine Chance, so anders er auch sein mag. Und ertrinke niemals in Selbstmitleid. Mache immer weiter.
"Wieder in Belsen zu stehen, fühlte sich an wie ein Sieg"
Eigentlich wollte Irene Butter niemals an den Ort des Todes zurückkehren. Doch ihre Kinder haben sie darum gebeten, wollten sehen, wo die Mutter überlebt hat. Als die ganze Familie 1991 schließlich nach Bergen-Belsen gefahren ist, stand da in der Lüneburger Heide kein verängstigtes kleines Mädchen mehr, sondern eine erfolgreiche Frau mit einem Mann, zwei erwachsenen Kindern und drei Enkelkindern. Sie werde diesen Moment nie vergessen, sagt Irene Butter. "Es fühlte sich an wie ein Sieg."
Irene Butter erhält das Bundesverdienstkreuz
Irene Butter bekommt im Juni 2024 in der Deutschen Botschaft in Washington das Bundesverdienstkreuz für ihren Beitrag zur Erinnerung an den Holocaust und die Versöhnung der Völker. Vorab hat die 93-Jährige dem Holocaust Museum historische Briefe und eine alte Kinderdecke aus den 1930er-Jahren übergeben.