Holocaust-Überlebende Irene Butter: "Der Kreis schließt sich"
Nach ihrer Flucht aus Bergen-Belsen als "Austauschjüdin" hat sich die Holocaust-Überlebende Irene Butter in den USA ein neues Leben aufgebaut. Nun bereist die 91-Jährige das Land der einstigen Täter. Was treibt sie an?
Irene Hasenberg Butter hat das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt. Seit ihrer Flucht lebt sie in Amerika, hält dort Vorträge in Schulen und Gedenkstätten, hat mit "Wir hatten Glück, noch am Leben zu sein. Entkommen aus Bergen-Belsen" ein Buch über ihre Jahre unter dem NS-Regime geschrieben und mit vier Hamburger Schülerinnen einen NDR Podcast über ihre Kindheit und ihre Rettung produziert: "Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?". Anfang September kommt die 91- Jährige auf Deutschlandreise und macht unter anderem Station in Bergen-Belsen und im Geburtshaus ihres Vaters. Ein Gespräch über gemischte Gefühle und Stachelbeeren in Elmshorn.
Irene Butter, warum nehmen Sie diese lange Reise auf sich?
Irene Butter: In erster Linie komme ich natürlich zu der Gedenkfeier in Bergen-Belsen. Vor zwei Jahren hatte die dortige Gedenkstätte eine Veranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers geplant, zu der ich eingeladen war, und ich wollte unbedingt nach Deutschland kommen.
Aber dann kam Corona und die Veranstaltung hat nicht stattgefunden. Jetzt holt die Gedenkstätte Bergen-Belsen das nach. Und bei dieser Gelegenheit kann ich auch die vier Schülerinnen persönlich treffen, mit denen ich den Podcast gemacht habe. Wir haben uns 22 Stunden lang über Zoom gesehen, in denen ich den Mädchen mein ganzes Leben erzählt habe. Wir sind uns also sehr nahe gekommen, aber wir haben uns nie leibhaftig getroffen. Und dann möchte ich natürlich auch noch mal zum jüdischen Friedhof in Laupheim, um das Grab meines Vaters zu besuchen.
Wie oft waren Sie schon in Bergen-Belsen?
Butter: Ich war schon zwei Mal mit meiner Familie dort. Und jedes Mal war es eine wirklich wichtige Erfahrung für mich - wegen des Schreckens, den ich dort erlebt habe, des schlimmsten Schreckens in meinem Leben. In der Lage zu sein, dort als Überlebende zu stehen, während Tausende und Millionen von Juden starben ... Es ist ein Ort, ein Raum, der in meinem Leben eine wichtige Rolle spielt. Verbunden mit Traurigkeit und mit der Freude des Überlebens.
Das heißt, Sie gehen mit gemischten Gefühlen dorthin?
Butter: Ja, so kann man das sagen. Auf der einen Seite ist da die Trauer über all die Menschen, die dort gestorben sind. Aber da ist auch ein Gefühl des Triumphs: dass trotz der Absicht der Nazis, uns alle zu töten, einige von uns 78 Jahre später immer noch hier sind und unsere Kinder und Enkel mitbringen können, um diesen Ort und das, was dort passiert ist, zu erleben.
In Elmshorn wollen Sie außerdem das Geburtshaus Ihres Vaters besuchen. Waren Sie schon einmal dort?
Butter: Ich war als Kind in Elmshorn und ich erinnere mich, dass ich als sehr kleines Kind meine Großeltern väterlicherseits vielleicht ein paar Mal besucht habe. Aber ich war noch sehr klein. Ich erinnere mich an ihren Garten, dass sie Stachelbeersträucher hatten, und ich habe die Stachelbeeren gepflückt. Das waren so wunderbare, friedliche Tage, die ich nie vergessen werde.
Ihre Großeltern mütterlicherseits, Julius und Pauline Mayer, mit denen sie in Berlin aufgewachsen sind, wurden 1942 in Theresienstadt ermordet. Was passierte mit Ihren Großeltern Henny und Julius Hasenberg?
Die Eltern meines Vaters starben kurz nach Hitlers Machtübernahme. Mein Vater wuchs aber in einer großen Familie auf. Er hatte sieben Geschwister und ich kannte sie alle irgendwann einmal. Ich habe nie verstanden, warum mein Vater der einzige von ihnen war, der den Holocaust nicht überlebt hat. Alle anderen haben es geschafft, und das ist irgendwie erstaunlich.
Wie haben die Geschwister Ihres Vaters überlebt?
Butter: Eine Schwester war im Konzentrationslager Theresienstadt - aber sie hat das irgendwie überlebt. Die anderen haben Deutschland rechtzeitig verlassen, sie waren dann überall. Sie lebten in Chile, in Kalifornien, Belgien, England. Ein anderer Bruder ist auch in Deutschland geblieben - und hat es irgendwie geschafft, nicht ins KZ zu kommen.
Wie ist dem Bruder das gelungen?
Butter: Ich glaube, er hat eine deutsche Christin geheiratet. Ich habe ihn nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder gesehen, aber ich weiß, dass er ihn überlebt hat.
Sie selbst waren zwischenzeitlich in den Niederlanden.
Butter: Mein Vater hatte die Wahl zwischen einer Stelle in Amsterdam bei American Express und Curaçao. Er hat sich für die Niederlande entschieden, weil er näher bei der Familie sein wollte, bei meinen Großeltern, die nicht mit uns aus Deutschland kommen konnten. Und dann hat er uns nachgeholt. So landeten wir in Amsterdam. Jeder träumte in der Zeit seinen eigenen Traum: dass der Krieg bald vorbei ist und wir zurück nach Deutschland gehen.
Aber am Ende hatten Sie in all dem Unglück ja auch viel Glück?
Butter: Auf jeden Fall. Ich bin sehr dankbar, dass ich überlebt habe, dass ich in die Vereinigten Staaten gekommen bin. Ich habe so viele Chancen bekommen. Wir waren sehr arm, wir hatten nichts, als wir nach Amerika kamen, und doch war ich in der Lage, eine Ausbildung zu machen. Ich wurde in der amerikanischen Gesellschaft akzeptiert und hatte ein sehr reiches Leben, auch was das Familienleben betrifft. Ich habe jetzt drei Enkel und drei Urenkel und eine wunderbare Familie, hatte aber auch eine befriedigende Karriere, einen wunderbaren Ehemann. Ich bin also auf jeden Fall dankbar für mein Überleben.
Haben Sie sich auf Ihre Deutschlandreise irgendwie vorbereitet?
Butter: Na ja, ich habe versucht, wieder ein bisschen Deutsch zu üben, weil ich ja nicht nur im Hamburger Zeise-Theater vor Schülerinnen und Schülern sprechen werde, sondern meine Geschichte auch in der Talkshow DAS! am 3. September im NDR Fernsehen erzählen werde. Außerdem möchte ich mit meinen Freundinnen und Freunden in Laupheim Deutsch sprechen. Ich fahre übrigens im Zug dorthin, und zwar ungefähr auf derselben Strecke, auf der ich auch 1945 in die Schweiz gefahren bin - in die Freiheit.
Wie ist es für Sie jetzt, Deutsch zu sprechen? Sie haben mal erzählt, dass Sie die Sprache nach dem Krieg jahrzehntelang nicht mehr ertragen konnten.
Butter: Mir ist klar geworden, wie wichtig die Sprache als Identifikationssymbol für ein Land oder eine Kultur oder ein Volk ist. Und durch meine Besuche in der Vergangenheit habe ich mich immer wohler damit gefühlt und genieße es heute sogar, einige Dinge auf Deutsch zu lesen. Es hat mein Leben bereichert. Irgendwie schließt sich hier ein Kreis.
Das Gespräch führte Caroline Schmidt.
Über die Deutschlandreise von Irene Butter berichtet der NDR zwischen dem 3. und 7. September ausführlich in Hörfunk, Fernsehen, in den Sozialen Medien und unter NDR.de/Geschichte.