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NS-Wahlkampf und Machtübernahme: Gleichschaltung im Norden

Stand: 30.01.2023 05:00 Uhr

Mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler übernehmen die Nationalsozialisten vor 90 Jahren im Deutschen Reich die Macht. Vorherige Machtdemonstrationen hatten den Boden bereitet. Die Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Organe soll nun den Widerstand brechen.

Oktober 1931 in Braunschweig: Vor dem Residenzschloss marschieren 100.000 Männer der Sturmabteilung (SA) in braunen Uniformen an ihrem Parteiführer Adolf Hitler vorbei. Aus dem ganzen Reich hatte dieser seine paramilitärischen Verbände in die Stadt beordert - eine gewaltige Demonstration der Macht. Und für die Braunschweiger Bürger durchaus ein Ereignis. August Roloff ist damals fünf Jahre als. Jahrzehnte später erzählt er dem NDR in einem Zeitzeugen-Projekt: "Ich habe Hitler so 30 Meter entfernt gegenüber gestanden, aber natürlich überhaupt nicht gewusst, was da passiert, wer Hitler ist. Das ganze Spektakel, dieser militärische Aufmarsch, dauerte immerhin fast sieben Stunden. Das ist so eine Erinnerung, die als Stimmung lange nachschwang."

Braunhemden wollen die Demokratie stürzen

Auch der Vater von Roloff schaute damals zu - und kannte die Braunhemden. Der erzkonservative Professor hatte den Nazis die Tür zur Macht geöffnet. Als Abgeordneter der rechten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) im Braunschweigischen Landtag hatte er eine Koalition eingefädelt, in der sich bürgerliche Parteien und NSDAP die Regierung teilen. Wenige Tage zuvor war der Zusammenschluss der nationalistischen Kräfte in Bad Harzburg besiegelt worden: Die selbsternannte "nationale Opposition" wollte die Demokratie stürzen.

Wirtschaftskrise beschert Nationalsozialisten Wahlerfolge

Ansturm auf Sparkassen im Juli 1931: Nach dem Zusammenbruch der Darmstädter Nationalbank ordnet die Regierung am 12. Juli 1931 die Schließung aller Banken und Sparkassen an. © picture-alliance / akg-images
Im Juli 1931 bricht im Zuge der Weltwirtschaftskrise das deutsche Bankensystem zusammen. Die Bürger stehen Schlange, um ihr letztes eigenes Geld zu retten.

Die Wahlergebnisse zu Beginn der 30er-Jahre zeigen, wie rasch die konservativen Wähler zur NSDAP wechselten. Vor allem im protestantischen, ländlich-kleinstädtischen Milieu kam die Nazi-Ideologie an. Außerdem hatte die Weltwirtschaftskrise die deutsche Wirtschaft stark geschädigt. Anfang des Jahres 1933 waren im Deutschen Reich fast acht Millionen Menschen arbeitslos. Damit waren auch die politischen Organisationen der Arbeiterschaft geschwächt.

In der preußischen Provinz Hannover, die in weiten Teilen dem heutigen Niedersachsen entspricht, lag die Wählerschaft der NSDAP schon in den 20er-Jahren teils weit über dem Reichsdurchschnitt. In Braunschweig trat die NSDAP 1930 in die Regierung ein. Hier wurde der Österreicher Adolf Hitler Anfang 1932 zum Regierungsrat ernannt und damit erst zum deutschen Staatsbürger. Auf diese Weise konnte er sich als Kandidat bei der Reichspräsidentenwahl 1932 bewerben. Im gleichen Jahr übernahm die NSDAP auch in Oldenburg mit einer absoluten Mehrheit die Regierungsgewalt. Im April 1933 verkündete der führende Nazi Dietrich Klagges Braunschweig als erstes Land rein nationalsozialistisch.

Kämpfe zwischen den politischen Lagern nehmen zu

Damit besaßen die Nationalsozialisten die Hoheit über Schulen, Beamte und Polizei. Die SA konnte Straßenschlachten mit Linken Parteien und Verbänden provozieren. Das erlebte der junge Roloff als Augenzeuge: "Ich erinnere mich zum Beispiel, dass bei Wahlen Straßenkämpfe zwischen Sozialisten und Nationalsozialisten stattgefunden haben und die Schutzpolizei mit Lastwagen angefahren kam." Es sei eine Stimmung gewesen, fast wie im Bürgerkrieg. Der Freistaat Braunschweig wurde zum Testfall für die Machtübernahme der Nazis im ganzen Reich. Dem Terror ausgeliefert waren Arbeiter, Linke und Gewerkschafter.

30. Januar 1933: Adolf Hitler wird Reichskanzler

Wie im gesamten Reich verhärteten sich auch in Norddeutschland die politischen Fronten. Wichtigster Ort der Auseinandersetzung war die Straße. Und die ist zu diesem Zeitpunkt schon fest in der Hand der brutalen SA, dem bewaffneten Arm der Nazis. Ihr Auftreten war martialisch: Mit ihren militärischen Formationen, den gebrüllten Kommandos, den Bannern und Fahnen bestimmten die Braunhemden mancherorts das Straßenbild. Vor allem seit dem 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Machtübernahme in Berlin.

Im mehr als 350 Kilometer entfernten Hannoversch Münden erfuhr auch der damals 13-jährige Heinz Hartung davon. 2008 erinnerte er sich bei NDR 1 Niedersachsen an die Reaktionen der Nationalsozialisten: "Die sind an diesem Abend singend durch die Stadt marschiert, ich hab dann aus dem Fenster herausschauen können und hörte dann zum ersten Mal, wie es hieß: 'Still gestanden!'. Dann brüllte der Standort-Mensch: 'Unserem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler ein dreifaches Sieg Heil!'. Da hab ich das zum ersten Mal gehört, das haben die nie zuvor gerufen."

Propaganda und Pogrome allerorten

Männer der SA bekommen 1933 Waffen überreicht. © picture-alliance / AKG
Nach der Machtergreifung 1933 wurde die SA als Hilfspolizei eingesetzt, insbesondere bei Razzien. Hier ein Bild von der Bewaffnung angetretener SA-Männer.

Im damals tief roten Hannoversch Münden löste der Triumph der Nazis große Unruhe aus, vor allem im Arbeiterviertel Hermannshagen. Dort marschierte die SA nun mit Verstärkung aus Göttingen und Kassel auf, so Heinz Hartung: "Von da an ging es ziemlich rund, da hat sich einiges abgespielt an brutalen Übergriffen gegen Leute aus der Sozialdemokratie und aus dem kommunistischen Bereich." Besonders schlimm erging es den Gegnern der neuen Machthaber: "Die sind verhaftet worden, zum Teil gab es regelrechte Schläge im Rathaus, so dass die Putzfrauen anschließend Blutspuren wegwischen mussten. Da hat sich also einiges Böses abgespielt."

Widerstand gegen Hitler: Zuchthaus wegen Hochverrats

Auch in den Arbeitervierteln Hannovers provozierten die Nazis fast jeden Abend brutale Schlägereien mit den Sozialisten. Für die damals 20-jährige Emmi Baumgarte war die Machtübernahme von Adolf Hitler ein ganz normaler Tag. Doch in den Wochen danach änderte sich alles, wie sie dem NDR 2008 als 95-Jährige erzählt hat: "Viele Arbeiter haben sie eingesperrt. Sie haben das erste KZ 1933 in Moringen gebaut, da wurden die SPD- und KPD-Leute hingebracht."

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Ingelene Rodewald sitzt auf einem Sessel, ihre Brillen in den Händen. © NDR

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Obwohl Baumgarte damals in Bückeburg wohnte, bekam sie bei regelmäßigen Besuchen der Eltern viel mit. Und auch für sie wurde es nun immer gefährlicher. Ihr Verlobter reiste illegal aus Russland nach Deutschland ein, um gegen Hitler anzugehen. Die junge Frau versteckte ihren Liebsten und einen Freund von ihm. Sie wurde verraten und wenige Tage später verhaftet: "Ich wusste gar nicht wieso und warum." Für Emmi Baumgarte bedeutete das: Untersuchungshaft und eine zweijährige Gefängnisstrafe wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Auch ihr Verlobter wurde gefasst und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er kam erst durch die Alliierten wieder frei.

Nazis machen Tempo bei der Gleichschaltung

Wer die Ideologie der Nationalsozialisten nicht teilte, lebte zunehmend gefährlicher. Nachdem sich das Parlament in Berlin durch das Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 selbst entmündigt hatte, folgten die Gleichschaltung aller Behörden, Institutionen und Organisationen und die Auflösung aller Parteien außer der NSDAP. In atemberaubendem Tempo gingen die Nationalsozialisten auch in Niedersachsen ans Werk, besetzten Zeitungsverlage und Gewerkschaftshäuser, terrorisierten politische Gegner oder nahmen sie in Haft. Kaum jemand konnte mehr ein öffentliches Amt bekleiden, wenn er nicht Mitglied der Nazi-Partei war oder einer ihrer Organisationen beitrat. Wo sich Stadtobere nicht anpassten, wurden sie verhaftet und gewaltsam zum Rücktritt gezwungen, wie der Braunschweiger Oberbürgermeister Ernst Böhme. All das passierte schon im ersten Halbjahr 1933.

Das Leben verändert sich - Denunziationen werden Alltag

Polizisten führen 1933 in Berlin eine Razzia gegen Kommunisten durch. © picture-alliance / akg-images
Die Nazis verfolgten ihre politischen Gegner - hier eine Razzia gegen Kommunisten 1933 in Berlin.

Der Machtanspruch der Nationalsozialisten beschränkte sich nicht nur auf die Politik, auch das alltägliche Leben sollte sich nach ihren Plänen richten. Der sogenannte Deutsche Gruß mit ausgestrecktem rechten Arm und den Worten "Heil Hitler" wurde bald zur gängigen Begrüßung, obwohl er nie gesetzlich vorgeschrieben war. Immer häufiger waren in norddeutschen Städten Aufmärsche von Uniformierten zu sehen.

Auch in Oldenburg veränderte sich das Straßenbild, bei jeder Gelegenheit mussten die Bewohner die Hakenkreuz-Fahne heraushängen. "Wer da nicht mitmachte, der fiel auf"", erzählte der damals 13-jährige Ummo Francksen vor einigen Jahren dem NDR. Die Überwachung sei bis in die Wohnstuben gegangen. "Es gab die Blockwarte, die die einzelnen Wohngebiete betreuten. Und dann bekam man eine Rüge: Warum haben sie die Fahne nicht rausgehängt?". Denunziationen und Bespitzelungen von Nachbarn gehörten bald zur Tagesordnung. Nach zuverlässigen Schätzungen beruhten die Verhaftungen der Gestapo zu 80 Prozent auf Anzeigen aus allen Schichten der Bevölkerung.

Strenge Organisation aller Teile der Gesellschaft

Vereidigung ehemaliger Pfadfinder in der Hitlerjugend: Jungen stehen in Reih und Glied. Drei Mitglieder der HJ gehen mit einer Fahne an ihnen vorbei. © picture-alliance / akg-images
Ehemalige Pfadfinder wurden in 1933 in die Hitlerjugend eingegliedert.

Die Menschen lebten unter ständiger Kontrolle. Jede gesellschaftliche Gruppe wurde erfasst und organisiert: Kinder kamen ins "Jungvolk", später streng nach Geschlecht getrennt in die "Hitlerjugend" oder den "Bund Deutscher Mädels". Jeder Erwachsene musste ein halbes Jahr "Reichsarbeitsdienst" leisten, Studenten waren im "NS-Studentenbund", Lehrer im "NS-Lehrerbund". Ein konfliktfreier Alltag schien nur möglich, indem man sich anpasste und sich einer der zahlreichen Nazi-Organisationen anschloss.

"Ab und zu verschwanden die Leute"

Nach dem Berliner Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 brach der bis dahin halbwegs gezügelte Terror von SA und SS gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Nazi-Gegner vollends los, sogar auf dem Land. In seinem Dorf im Kreis Diepholz erlebte der damals 13-jährige Fredy Hohnhorst, dass immer öfter Menschen verhaftet wurden. "Was damals schon aufgefallen ist: Ab und zu verschwanden die Leute aus der Gemeinde. Die waren auf einmal weg." So erzählte er es dem NDR vor einigen Jahren im Rahmen eines Zeitzeugen-Projektes. Als ein Mann im Nachbardorf festgenommen worden war, habe Hohnhorst von der Brutalität der neuen Machthaber gehört. Nach einem halben Jahr Arbeitslager und schweren Misshandlungen sei der Mann völlig verändert zurückgekommen: "Da hat er gesagt, er will nicht darüber reden - aber wo er gewesen ist, da wolle er nicht wieder hin."

Verhaftungen als Abschreckung

Kritik war von Anfang an riskant. Die inzwischen gleichgeschalteten Zeitungen und der Rundfunk berichteten oft über Verhaftungen, um Gegner des NS-Regimes abzuschrecken. "Von dem Konzentrationslager im Emsländischen Esterwegen haben wir schon 1933 gewusst", erinnerte sich vor einigen Jahren Willi Heumann aus Oldenburg. Die drei Emslandlager, in denen das berühmte Protestlied "Die Moorsoldaten" entstand, hatten binnen kürzester Zeit an die 4.000 Häftlinge. Die meisten von ihnen kamen aus der Arbeiterbewegung. Offene Ablehnung der NSDAP sei so gut wie unmöglich gewesen, wie fast überall in Deutschland: "Die Angst stand dahinter, die kam gleich mit."

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Viel Verfolgung, wenig Widerstand

Sehr viel besser erging es denjenigen, die sich mit den neuen Machthabern gut stellten. Profiteure waren die meist jungen Nationalsozialisten der ersten Stunde. Viele erkannten ihre Chance und schalteten Vorgesetze und Konkurrenten aus, um die eigene Stellung zu verbessern. Die Menschen lebten nun in einem totalitären Staat, in dem man sich das Überleben durch Anpassung sicherte. Widerstand gegen die Bevormundung durch das NS-Regime wurde nur selten sichtbar.

Staatlich organisierter Terror gegen Juden

SA-Männer kleben ein Plakat mit der Aufschrift 'Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden' an die Schaufensterscheibe eines jüdischen Geschäfts. © picture-alliance / akg-images
Ab 1933 wurde offensiv zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgefordert.

Am Morgen des 1. April 1933 zogen in ganz Deutschland uniformierte und zum Teil bewaffnete SA-Trupps vor jüdischen Geschäften auf. Auch in Norddeutschland standen nun Nazis mit Plakaten vor den Läden. "Kauft nicht bei Juden" war darauf zu lesen. Zum Teil brutale Übergriffe der SA, Boykott-Maßnahmen, Plünderungen und Schikanen mussten jüdische Händler und Gewerbetreibende schon in der Weimarer Republik über sich ergehen lassen. Doch nun wurde aus staatlich geduldeter Gewalt erstmals staatlich organisierter Terror - die mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 eine neue Dimension erreichte.

Von den etwa 15.000 Juden, die zu Beginn der 30er-Jahre etwa in dem Gebiet des heutigen Niedersachsens lebten, kamen nur die wenigsten mit dem Leben davon. Insgesamt wurden mehr als sechs Millionen Juden von Deutschen und ihren Helfern während der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs ermordet. Dieser Krieg wiederum, der seinen Beginn mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 nahm, kostete bis zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 weltweit mehr als 50 Millionen Menschen das Leben.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 29.01.2023 | 19:30 Uhr

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