Gefoltert, ermordet, versenkt: Johannes Stelling
Mit der Machtübernahme der Nazis beginnt 1933 die erbarmungslose Verfolgung politischer Gegner. Sie verhaften, foltern und töten Intellektuelle, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Darunter: Johannes Stelling, der erste SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin.
Auf seiner Titelseite vom 9. Juli 1933 fragt der "Neue Vorwärts" besorgt: "Wo ist Stelling?". Das sozialdemokratische Wochenblatt berichtet, dass der frühere mecklenburgische Ministerpräsident Johannes Stelling am 21. Juni von SA-Männern aus seiner Berliner Wohnung geholt und schwer verletzt worden sei. Seither fehle jede Spur von ihm. "Angehörige und Freunde sind in höchster Sorge um das Schicksal von Johannes Stelling."
Stelling vollzieht eine tragische Fehleinschätzung
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Flucht des SPD-Parteivorstandes ist Stelling damals einer der ranghöchsten Sozialdemokraten Deutschlands. "Als man ihn fragte, weshalb er nicht auch emigriere, sagte er, er habe in seinem ganzen Leben niemanden etwas zuleide getan. Ihm werde schon nichts passieren", sagt der Historiker Volker Stalmann, der eine Stelling-Biografie geschrieben hat. Dass Stelling damals nicht flieht, soll zur tragischen Fehleinschätzung werden.
Von Hamburg nach Lübeck und Schwerin
Seine politische Karriere beginnt 1901 in Lübeck. Der gebürtige Hamburger wird Redakteur beim SPD-Parteiblatt "Lübecker Volksbote". Der Job bei der Tageszeitung ist zugleich einer als Partei-Mitarbeiter. Eine Trennung von Parteiamt und journalistischer Tätigkeit ist damals unüblich. Stelling ist zudem stark in den Aufbau der Transportarbeiter-Gewerkschaft involviert. Mit dem Ende des Kaiserreichs und der Novemberrevolution beginnt für den damals 41-jährigen ein neuer Lebensabschnitt: 1919 geht er ins benachbarte Mecklenburg-Schwerin und wird dort Innenminister. Ein schwieriger Job.
Die meisten Polizeibeamten lehnen die Sozialdemokraten ab
Zwar hat Stelling mit Hans Emil Lange, dem Leiter der mecklenburgischen Sicherheitspolizei, einen demokratisch gesinnten Mitstreiter - doch die meisten Polizeibeamten lehnen den Sozialdemokraten ab. "Viele tendierten noch zum Kaiserreich und standen der neuen Regierung und der neuen Verfassungsordnung ablehnend gegenüber", weiß Historiker Stalmann. Wie gefährdet die junge Republik ist, zeigt sich beim Kapp-Putsch im März 1920. Überall im Reich versuchen rechtsradikale Freikorps und Teile der Reichswehr einen Staatsstreich.
Bewährung im Kapp-Putsch
Auch in Mecklenburg kommt es zu heftigen Kämpfen - und zahlreichen Toten. Die Schweriner Regierung wird von den Putschisten aufgefordert, Wolfgang Kapp als neuen Reichskanzler zu akzeptieren. "Stelling und die anderen Regierungsmitglieder weigerten sich natürlich. Sie kamen kurzzeitig in Schutzhaft", berichtet Stalmann. Ein Generalstreik beendet den Spuk nach wenigen Tagen.
Doch das Grundproblem bleibt: In Mecklenburg treiben Freikorps-Verbände weiter ihr Unwesen. Die rechtsradikalen Truppen terrorisieren die Landbevölkerung. "Die Freikorps verfügten auch über schwere Waffen wie Panzer und Artillerie. Und für Stelling als Innenminister war es sehr schwierig, diese Situation zu kontrollieren." Im Januar 1921 wird Stelling zum Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Schwerin gewählt. Ein Amt, dass er bis zur SPD-Niederlage bei den Landtagswahlen 1924 ausübt.
Stelling engagiert sich im "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold"
Er konzentriert sich nun auf sein Reichstagsmandat und übernimmt eine führende Rolle im "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold". Gegründet im Februar 1924 wird der Verband zum Schutz der demokratischen Republik von den Parteien der Weimarer Koalition getragen. Mitglieder der katholischen Zentrumspartei, der linksliberalen DDP und vor allem SPD-Leute schließen sich hier zusammen. Sie sichern Veranstaltungen und Demonstrationen vor rechten Schlägertrupps ab und organisieren Verfassungsfeiern.
"Verteidigung der Republik wurde ihm zur Lebensaufgabe"
"Stelling hat sich einmal als Trommler für die freie, für die soziale Republik bezeichnet", sagt Stalmann. "Und die Verteidigung der Republik wurde ihm zu seiner Lebensaufgabe." Rund 1,5 Millionen Mitglieder hat das "Reichsbanner" auf seinem Höhepunkt. Das suggeriert eine Stärke, die auch damals mit politischer Macht gleichgesetzt wurde. Ein Trugschluss, wie Historiker Stalmann in der Rückschau sagen kann: Das "Reichsbanner" sei als defensive Organisation nicht bürgerkriegstauglich gewesen und habe den nationalsozialistischen Sturmabteilungen (SA) am Ende zu wenig entgegensetzen können.
Stelling gibt Informationen zum Reichstagsbrand weiter
Das zeigt sich spätestens in den ersten Wochen des Jahres 1933. Kaum ist Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, regiert auf den Straßen der braune Mob. Am 27. Februar 1933 geht der Reichstag in Berlin in Flammen auf. Die Nationalsozialisten nutzen das als Vorwand, um zahlreiche Gegner zu verhaften. Die Behauptung: Kommunisten hätten das Parlamentsgebäude angesteckt. Als Stelling von der Beteiligung einiger Köpenicker SA-Leute an der Brandstiftung erfährt, berichtet er darüber an den exilierten SPD-Parteivorstand.
"Köpenicker Blutwoche": Tagelanger Gewaltexzess
Stelling lebt damals in einem bescheidenen Haus der Siedlung Elsengrund in Berlin-Köpenick. Die Gartenvorstadtsiedlung wird am 21. Juni 1933 Ausgangspunkt eines bis heute verstörenden Gewaltexzesses. Nachdem dort SA-Leute bei einem Überfall auf zwei "Reichsbanner"-Männer erschossen werden, beginnt die sogenannte Köpenicker Blutwoche. "Die Siedlung Elsengrund wurde am Abend von SA-Einheiten umstellt. Es haben gezielte Hausdurchsuchungen bei Kommunisten und Sozialdemokraten stattgefunden", erzählt Matthias Wiedebusch. Er arbeitet an der Gedenkstätte "Köpenicker Blutwoche".
NS-Gegner werden brutal gefoltert - und getötet
Auch in das Haus von Johannes Stelling dringen die brutalen Schläger ein. Sie zerren ihn auf die Straße, verprügeln ihn öffentlich. Kein Einzelfall, sagt Wiedebusch: "Wir sprechen bei der 'Köpenicker Blutwoche' von mehreren Hundert verhafteten Menschen, die wirklich lebensgefährlich verletzt und misshandelt wurden." Sechs Tage dauert der Schrecken, mindestens 23 Menschen werden getötet. Johannes Stelling wird in ein sogenanntes Sturmlokal der SA verschleppt und auch dort schwer misshandelt. Dann wird er in das Amtsgerichtsgefängnis Köpenick gebracht. Hunderte Nazi-Gegner sind dort eingesperrt, werden im Betsaal der Gefängniskappelle brutal gefoltert. Der Fußboden, das Treppenhaus - alles sei blutverschmiert gewesen, erzählen Augenzeugen später. "Die Täter sind auch mit den Leichnamen unwürdig umgegangen", berichtet Wiedebusch.
Stellings Leiche landet mit Pflastersteinen in der Dahme
Zusammen mit zwei weiteren Getöteten wird Stellings Leiche in einen Wassersport-Club gebracht, mit Pflastersteinen in einen Sack eingenäht und in den Fluss Dahme geworfen. Mehr als eine Woche später wird Stellings aufgedunsene Körper in der Nähe eines Fähranlegers gefunden. Im Bericht der Berliner Kriminalpolizei heißt es: "Der Oberkörper war nackt und zeigte zahlreiche Schußverletzungen. An der rechten Hand hatte die Leiche einen goldenen Trauring mit der Inschrift 'Fr. Sch. 25.12.01'. Die Taschen enthielten zwei Taschentücher (blutgetränkt)."
Das Ausland berichtet - Deutschland schweigt
Über den Hintergrund von Stellings Ermodung erfährt die deutsche Öffentlichkeit nichts. Die Zeitungen verschweigen sogar seinen Tod. Nur in der "Vossischen Zeitung" erscheint eine private Traueranzeige der Familie. Darin bitten Stellings Frau und Tochter inständig: "Beileidsbesuche dankend verbeten." Zu groß schien offensichtlich die Gefahr weiterer Drangsalierungen durch die Nationalsozialisten. Ganz anders hingegen im Ausland. Zeitungen in ganz Europa berichten, sogar die "New York Times".
Trauerfeier wird zum Akt des Widerstands
Der "Neue Vorwärts", der im Prager Exil erscheint, schreibt über die Trauerfeier in Berlin: "Als der Sarg mit der Leiche Stellings zur Verbrennung in die Gruft gesenkt wird, rief jemand von der Galerie: 'Hannes, Du bist nicht tot!' Darauf erhoben sich die übrigen zahlreichen Teilnehmer und streckten den rechten Arm mit geballter Faust in die Höhe und riefen 'Freiheit!'".
Es ist ein letzter kämpferischer Gruß für den Zeitungsredakteur, Reichstagsabgeordneten, Innenminister, Ministerpräsidenten und "Reichsbanner"-Führer Johannes Stelling. Er sei ein bedeutender Sozialdemokrat gewesen, sagt Biograf Volker Stalmann: "Er war ein engagierter Verteidiger der Republik, der seinen Einsatz für die Freiheit, für die Grundsätze der Humanität, den demokratischen Sozialismus mit seinem Leben bezahlen musste." Für dieses Engagement habe Stelling Mut gebraucht - und gezeigt. Mut, den viele Deutsche damals nicht hatten.