Gespräche mit Irene Butter: "Die Bewunderung ist gewachsen"
Für den Podcast "Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?" haben vier Hamburger Schülerinnen 22 Stunden lang mit der 91-jährigen Holocaust-Überlebenden Irene Butter gesprochen. Wie haben sie die Nachmittage erlebt?
Am Anfang des gemeinsamen Projekts von NDR Info, dem NDR Audio Lab Think Audio und dem Jugendportal funk, zu hören in der ARD Audiothek, empfanden die vier Schülerinnen vor allem Neugier. Die NS-Zeit, den Holocaust kannten Milla Bessling, Mathilda Foitlinski, Lonneke Liebmann und Ida Seidel vom Hamburger Helene-Lange-Gymnasium bislang nur aus dem Schulbuch. Die harten Fakten, die Zahlen, die Zusammenhänge. Aber wie erging es einem fast gleichaltrigen Mädchen in dieser Zeit, das in ein Konzentrationslager verschleppt wird?
Diese Geschichte von einer Holocaust-Überlebenden direkt zu hören und nachfragen zu dürfen - das klang für die vier zu dem Zeitpunkt 16-jährigen Mädchen "total spannend, aufregend, eine tolle Sache", wie sie auch zu Beginn des Podcasts sagen. Und so kamen sie zehn Nachmittage lang in den NDR, um die 91-jährige Irene Butter zu interviewen.
Themenblöcke untereinander aufgeteilt
Jedes Gespräch dauerte anderthalb bis zwei Stunden und war aufgeteilt in eine Reihe von Themen und Ereignissen, für die immer ein Mädchen verantwortlich war. Das hatte dann vorbereitete Fragen auf einer Karteikarte vor sich, an denen es sich orientieren konnte, während die anderen drei sich nach allem erkundigen sollten, was ihnen gerade einfiel. Und dann ging es los - und die vier Mädchen merkten schnell, wie schwer ein solches Gespräch sein kann.
Wie reagieren angesichts von Trauer und Schmerz?
"Vor der ersten Aufnahme", sagt Milla, "hatte ich richtig Herzrasen." Was sollten sie denn sagen, wenn eine alte Dame erzählt, wie traurig sie als Kind war, als sie nicht zu einem Kindergeburtstag durfte, weil sie Jüdin war? Wie reagieren angesichts der Erzählung von immer mehr Mitschülerinnen und Mitschülern, die aus der Klasse verschwanden, weil sie in Vernichtungslager deportiert wurden? Und was ist ein angemessener Satz, wenn jemand weint, weil er vom Tod des eigenen Vaters spricht? Stellt man da einfach die nächste Frage?
Doch diese Sorgen legten sich. Denn Irene Butter weiß natürlich, wie schwierig es ist, über den Holocaust zu sprechen - und ging auf jede noch so schüchterne oder auch ungelenke Frage behutsam ein. Mit jeder Folge wuchsen die fünf mehr zusammen. "Es war", sagt Lonneke, "als ob wir ein Puzzle zusammensetzen, das ihr Leben ist."
Reise in die Vergangenheit eine emotionale Achterbahnfahrt
Stück für Stück reisten sie durch Irene Butters Leben. Freuten sich mit ihr über glückliche Kinderjahre in Berlin. Erlebten mit wachsendem Entsetzen, wie sich dann die Welt verdunkelte. Stiegen empört mit in den Viehzug ins Nazi-Lager Westerbork. Hörten mit Grauen, wie von dort jede Woche Transporte ins Konzentrationslager Auschwitz abfuhren. Fuhren geradezu erleichtert mit der damals 13-Jährigen in einem Personenzug nach Bergen-Belsen, wo diese grausame Wochen und Monate durchstand und nur in allerletzter Minute gerettet wurde. Sie weinten, hofften, lachten zusammen. Und am Ende waren sie alle traurig, dass sie sich nicht mehr jede Woche sehen können.
"Es lohnt sich, auch Schlimmes durchzustehen"
Ihnen sei im Laufe der gemeinsamen Nachmittage nicht nur die Zeit unter dem Nazi-Regime und des Zweiten Weltkriegs sehr nahe gekommen - es sei auch eine Neugier entstanden, noch mehr erfahren, noch mehr Geschichten hören zu wollen, sagt Ida. Auch ihre Bewunderung Irene Butter gegenüber sei noch mal gewachsen: "Wie sie immer einfach weiter gemacht hat." Sie habe jetzt verstanden, sagt Ida, "dass es sich lohnt, auch eine schlimme Lebensphase durchzustehen, denn danach kann es wieder besser werden."
Von Irene Butter habe sie gelernt, sagt Lonneke, dass man aus jeder Situation herauskommen kann, "ganz egal, wie schwierig das ist." Und dass es nie zu spät sei, "mit etwas aufzuhören oder etwas Neues anzufangen". Irene Butter habe doch jahrzehntelang geschwiegen, bis sie dann "durch einen puren Zufall" beschlossen habe, von nun an ihre Geschichte zu erzählen. "Ganz gleich, wie schrecklich es für sie ist - denn das, was sie damit bewirken kann, ist so wichtig."
Mit Geschichte Verantwortung für die Zukunft übernommen
Dieses neue Wissen bedeute aber auch eine große Verantwortung, sagt Mathilda: "Auch wir müssen diese Geschichte jetzt weitertragen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht." Es sind große Gedanken, die die vier Mädchen am Ende des Projektes formulieren. "Wenn die anderen den Podcast hören, werden sie verstehen, was wir erlebt haben", sagen sie.