Nazis gegen "Rote": Der Überfall auf Braunschweigs SPD-Zentrale
Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wird die Zerschlagung ihrer politischen Gegner immer radikaler: Im März überfällt die SS das Braunschweiger Volksfreund-Haus - zerstört und tötet. Das einstige SPD-Haus wird zur Folterstätte.
Am Nachmittag des 9. März 1933 überfällt ein Trupp von SS- und SA-Männern unter der Führung des Landtagsabgeordneten und SS-Anführers Friedrich Alpers das Braunschweiger Volksfreund-Haus. Hier haben unter anderem die SPD, Gewerkschaften und eine sozialdemokratische Zeitung ihren Sitz. Laut Zeitzeugen-Berichten stürmen die Nationalsozialisten um 16.05 Uhr das Gebäude, während die Polizei die umliegenden Straßen absperrt. Die Angreifer geben vor, nach Belastungsmaterial und Waffen zu suchen. Während sie in das Haus eindringen, geben sie Schüsse ab. Von einem dieser Schüsse wird der Berliner Kaufmann Hans Saile tödlich getroffen.
Eine der ersten Verbrennungsaktionen der Nazis
Die SS-Männer treiben die Menschen im Haus zusammen und misshandeln sie. Das Inventar wird zertrümmert, Bücher, Akten, Zeitungen und Fahnen der SPD und der Gewerkschaften auf dem Ackerhof vor dem Volksfreund-Haus aufgetürmt und angezündet. Drei Tage brennt das Feuer - und ist damit quasi eine der ersten öffentlichen Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten.
"Ihr Ziel war, die politischen Gegner [...] zu vernichten, den Volksfreund Verlag als geistigen Träger sozialistischen Gedankenguts seiner Wirkung zu berauben und die Erinnerung im 'Gedächtnis der Bücher' zu löschen", schreibt der Historiker Gerd Biegel einem Beitrag im Braunschweig-Portal "Der Löwe" am 8. Mai 2020.
SS-Mann Alpers erhält Polizei-Vollmachten
Vorausgegangen war dieser Aktion eine kleine Schlägerei am Vormittag zwischen einem oder mehreren SS-Männern und einem Mitglied des Reichsbanners, eines Vereins zum Schutz der Demokratie. Diese Prügelei in der Nähe des Volksfreund-Hauses wurde mutmaßlich von der SS inszeniert. Für den Tag des Übergriffs ließ sich SS-Mann Friedrich Alpers mit Vollmachten für seine aus SS- und zusätzlichen SA-Leuten bestehende Hilfspolizei ausstatten.
Reichstagsbrandverordnung hebelt Grundrechte aus
Wie konnte es zu diesem willkürlichen Übergriff unter Anwendung massiver Gewalt kommen? Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 gab es im ganzen Land vermehrt Übergriffe auf politisch Andersdenkende. Zudem hebelten die Nazis nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 mit Notverordnungen die Grundrechte der Weimarer Verfassung aus - und legalisierten damit die Verfolgung politischer Gegner. Auch in Braunschweig begannen im Zuge dessen erste Terrorakte gegen SPD und KPD. Schlägereien, Razzien und Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung.
Ehemaliger Ministerpräsident Jasper protestiert
Noch am Tag des Überfalls auf das Volksfreund-Haus legt der Sozialdemokrat Heinrich Jasper Protest gegen die Aktion ein. Der ehemalige mehrfache Ministerpräsident des Freitstaats Braunschweig zeigt SS-Mann Alpers bei Polizeipräsident Johannes Lieff an - und wird mit dem Verweis auf polizeiliche Vollmachten für Alpers abgewimmelt. Auch bei Innenminister Dietrich Klagges und sogar bei Reichspräsident Paul von Hindenburg gehen Protestnoten von Jasper ein - ohne Erfolg.
Klagges' Ziel: Eine "nationalsozialistische Musterstadt"
Denn im Land Braunschweig regiert bereits seit der Landtagswahl im September 1930 eine Koalition aus Bürgerlicher Einheitsliste (BEL) und NSDAP. Dietrich Klagges ist seit dem 15. September 1931 als Innenminister Teil der Landesregierung. Schlüsselstellen in Politik und Polizei sind also bereits mit NSDAP-Leuten besetzt, sodass Proteste im Sande verlaufen. Am 6. Mai 1933 schließlich wird Klagges dann auch von den Nationalsozialisten zum Ministerpräsidenten des Freitstaats ernannt werden.
Oberbürgermeister Böhme wird verhaftet und gefoltert
Für diejenigen, die auf Recht und demokratische Werte pochen, wird es also immer gefährlicher. Klagges verfolgt rücksichtslos sein Ziel, Braunschweig zu einer "nationalsozialistischen Musterstadt" zu machen. Oberbürgermeister Ernst Böhme wird am 13. März seines Amtes enthoben. Nach seiner Verhaftung am 23. März erzwingen Alpers und die SS durch Folter, dass Böhme auch sein Landtagsmandat niederlegt. Als Böhme nach einem halben Jahr wieder auf freien Fuß kommt, kann er sich absetzen und sein Leben retten.
Folter führt zu "Mandatsverzichtswelle"
Dem Überfall auf das Volksfreund-Haus und der Amtsenthebung von Bürgermeister Böhme folgt die Terrorisierung von Landtagsabgeordneten, die nicht der NSDAP angehören. Unter Drohungen, Misshandlungen und Folter werden die Mandatsträger von der SA und der SS dazu gezwungen, ihre Sitze niederzulegen. Heinrich Jasper hingegen lehnt eine Mandatsniederlegung ab. Er wird im Juni 1933 verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. 1939 wird er entlassen, doch 1944 erneut inhaftiert. Jasper stirbt im Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen.
Nazis zerschlagen Arbeiterbewegung in Braunschweig
Diese sogenannte "Mandatsverzichtswelle" führt dazu, dass schließlich ausschließlich NSDAP-Abgeordnete im Braunschweiger Landtag sitzen. Dieser "rein nationalsozialistische Landtag" wird am 29. April 1933 mit einem Festakt im Dom von den Machthabern gefeiert. Die Arbeiterbewegung in Braunschweig ist innerhalb weniger Monate zerschlagen und jegliche Opposition ausgeschaltet worden.
Nazis benennen Gebäude nach SS-Mann
Ab Juli 1933 wird das Volksfreund-Haus von den Nazis in "Gerhard-Landmann-Haus" umbenannt. Der SS-Mann Landmann ist mutmaßlich versehentlich von eigenen Leuten erschossen wurden. Die SS allerdings beschuldigt Kommunisten des Mordes. Sie nimmt elf Männer fest, foltert und erschießt sie am 4. Juli 1933 auf einem Hof bei Rieseberg. Diese Gräueltat geht unter der Bezeichnung Rieseberg-Morde in die Geschichte ein.
Das Volksfreund-Haus wird zur Folterstätte
Gleichzeitig überträgt die NSDAP das Gebäude durch Enteignung wie auch alle übrigen Werte der SPD in ihr Vermögen. Die neuen Machthaber nutzen das Haus als sogenanntes Schutzgefängnis und Folterstätte für politische Gegner und jüdische Bürgerinnen und Bürger.
Während Gegner des Regimes schonungslos bekämpft werden, sorgt Ministerpräsident Klagges dafür, dass sich verschiedene NS-Institutionen in Braunschweig ansiedeln. Wirtschaftlich prosperiert die Stadt aufgrund zahlreicher Industrieunternehmen - auch in der Umgebung wie in Wolfsburg und Salzgitter. Allerdings wird die Gegend so auch zum Angriffsziel der Alliierten. Das Volksfreund-Haus erleidet bei Luftangriffen starke Schäden.
Volksfreund-Haus heute wieder Sitz der SPD
Nach Kriegsende 1945 wird das Volksfreund-Haus wieder aufgebaut und geht in den Besitz der SPD zurück. Heute sind in dem Gebäude Büroräume des Braunschweiger SPD-Bezirks und des SPD-Unterbezirks - außerdem befinden sich hier ein Städtisches Amt, Büros und Privatwohnungen.
An der Hauswand zum Ackerhof hat das Friedenszentrum Braunschweig eine Gedenktafel mit folgender Inschrift anbringen lassen:
Am 9.3.1933 stürmte die zwei Tage vorher aus SA und SS
aufgestellte "Hilfspolizei" das Volksfreundhaus,
inhaftierte, folterte und tötete Gegner.
Mehrere Tage lang brannte auf dem Ackerhof ein Scheiterhaufen,
auf dem die Bücher der Volksbuchhandlung,
das gesamte SPD-Parteiarchiv, die Akten der Gewerkschaften
und anderer Verbände vernichtet wurden.
Inschrift auf der Gedenktafel am Volksfreundhaus