Wie eine Holocaust-Überlebende zur Podcasterin wurde
Im neuen Podcast "Zeitkapsel: Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?" erzählt Irene Butter Hamburger Schülerinnen von ihrer Kindheit unter den Nazis, der Zeit im KZ Bergen-Belsen und ihrer Rettung. Autorin Caroline Schmidt über das Projekt.
Der Oral-History-Podcast ist ein Gemeinschaftsprojekt von NDR Info, dem NDR Audio Lab Think Audio und dem Jugendportal funk. Die neun Folgen sind in der ADR Audiothek und bei funk veröffentlicht.
von Caroline Schmidt
Die Holocaust-Überlebende Irene Butter gehört zu jenen Menschen, die andere durch bloßes Erzählen in ihren Bann ziehen können. Als ich ihr das erste Mal zuhören durfte, saß ich auf dem Rand einer Badewanne in Washington. Ich interviewte sie für eine NDR /Arte-Dokumentation über die jüngsten Überlebenden von Bergen-Belsen. Das Hotelzimmer, das wir für dieses Gespräch ausgesucht hatten, war sehr klein. Doch die seltsamen Umstände traten schnell in den Hintergrund.
Bergen-Belsen statt Auschwitz: ein Glück
Denn jetzt reisten wir mit Irene in ihre Kindheit. Sie erzählte uns, wie die Nazis in Amsterdam an ihre Wohnungstür klopften und laut "Schnell, schnell" Raus, raus!" brüllten. Nur durch eine wundersame Fügung wurden die Hasenbergs nicht in ein Vernichtungslager gebracht, sondern ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Es ist ein Muster in Irene Butters Geschichte: Wunder und Glück tauchen auf, wenn man es gar nicht mehr erwartet. Aus der tiefsten Finsternis entsteht plötzlich ein Licht.
Seit diesem Interview im Winter 2010 haben wir via Skype Kontakt gehalten und uns auch gegenseitig besucht. Aber keine von uns hätte je gedacht, dass wir eines Tages noch ein gemeinsames Projekt auf die Beine stellen würden - und schon gar nicht einen neunteiligen Podcast über ihr ganzes Leben.
Nach Jahrzehnten fällt der Widerstand, deutsch zu sprechen
Zumal Irene Butter kein deutsch sprach, als wir uns kennenlernten. Das Interview führten wir auf Englisch. "Ich kann die deutsche Sprache nicht mehr ertragen“, sagte sie mir damals, "sie erinnert mich ans Konzentrationslager." Und tatsächlich haben wir zehn Jahre lang nie deutsch miteinander geredet.
Und doch fiel mir auf, dass Irene ihre Kontakte nach Deutschland ausbaute. Immer mehr deutsche Freundinnen und Freunde tauchten in ihren Gesprächen auf. Und als das Deutsch-Amerikanische Institut in Heidelberg sie 2014 zu einem Symposium über den Sinn des Lebens einlud, stieg sie mit 83 Jahren sofort in den Flieger. Wir trafen uns in Berlin, ihrer Geburtsstadt, und sie genoss es ganz offensichtlich, wie lebendig und fröhlich diese Stadt geworden war. Und ich freute mich mit ihr, dass die Dinge sich offenbar zum Guten wandten.
Vom eigenen Buch zur Idee, in Deutschland zu sprechen
Doch dann erstarkten die Rechten in Amerika, Donald Trump zog ins Weiße Haus ein, und Irene Butter hielt immer mehr Vorträge über den Holocaust und die NS-Zeit und reiste immer intensiver durch Amerika, um Kinder und Jugendliche aufzuklären. Eines Tages sagte sie zu mir: "Ich schreibe jetzt ein Buch über mein Leben." Ihr biografischer Roman "Shores Beyond Shores. From Holocaust to Hope" erschien 2018 in Amerika. Sie versuchte, auch einen deutschen Verlag zu finden, was aber zunächst schwierig war.
Und so fragte ich sie eines Tages, ob sie ihre Geschichte nicht einfach mündlich in Deutschland erzählen wollte. Nach einigem Zögern stimmte sie zu. Im März 2020 wollte sie vor über 1.000 Besucherinnen und Besuchern im Hamburger Schauspielhaus sprechen. Am nächsten Vormittag hatten wir noch eine Veranstaltung mit 150 Schülerinnen und Schülern in den Zeise-Kinos organisiert. Doch die Corona-Pandemie vereitelte unsere Pläne.
Corona-Pandemie zwingt zum Umdenken
Vor den Sommerferien 2020 kontaktierten mich plötzlich ein paar Schülerinnen aus der neunten Klasse des Hamburger Helene-Lange-Gymnasiums. Sie hätten sich so auf diesen Vormittag mit Irene Butter gefreut. Ob sie nicht zumindest einmal mit ihr skypen dürfte. Ich fand die Idee toll - und es wurde ein Projekt daraus, das größer und größer wurde. Denn auch der NDR fand Irene Butters Geschichte stark und auch das Jugendportal funk von ARD und ZDF stieg mit ein.
Technisch ist ein interkontinentaler Podcast eine kniffelige Sache. Es sollte ja so klingen, als würden alle in einem Raum sitzen, damit die unterschiedliche Akustik nicht vom Inhalt ablenkt. Die Toningenieure lösten das Problem, indem sie Irene Butter ein eigenes Mikro nach Ann Arbor schickten, wo sie mit ihrem Mann Charlie wohnt, nahe der Grenze der USA zu Kanada.
Deutsch-Training für die Podcast-Produktion
Im Herbst 2021 saßen Ida, Lonneke, Mathilda und Milla - alle 16 Jahre alt - bei uns in einem großen NDR Studio, jede ein Mikro und ein Tablet vor sich, die Tische ganz weit auseinander. Sie waren wahrscheinlich genauso aufgeregt wie Irene Butter, die sich via Zoom zuschaltete. Wir hatten in den vergangenen Monaten jeden Sonntag eine Stunde miteinander deutsch gesprochen, hoffentlich reichte das Training jetzt.
Dann geht es los: Die Mädchen fragen, Irene Butter erzähle. Erst stockend, dann immer flüssiger. Von ihrer glücklichen Kindheit in Berlin in den 30er-Jahren und der Flucht in die Niederlande, von der Deportation und der Zeit in Bergen-Belsen - einem KZ, in dem es zwar keine Gaskammern gab, aber dennoch Zehntausende starben. Von der permanenten Angst, der Brutalität, dem Hunger, der immer wieder aufflackernden Hoffnung, der wundersamen Rettung in die Schweiz und ihrer glücklichen Zukunft in Amerika.
22 Stunden Gespräch, die ins Mark gehen
Da die Mädchen präzise fragten, schildert Irene Butter vieles bis ins Detail. Wie die Baracke aussah, ihren Alltag im Konzentrationslager und warum die Stunden auf dem Appellplatz zu den schlimmsten Momenten ihres Lebens zählen. Und die Mädchen hören zu, ganze Nachmittage lang. Ganz gleich, ob sie vorher eine Klausur geschrieben oder am Wochenende Party gemacht hatten. Über 22 Stunden lang.
In der Zeit der intensiven Gespräche wachsen die fünf Podcasterinnen zusammen. Immer lockerer und selbstverständlicher werden die Runden, sodass sie in besonders grotesken Momenten manchmal zu fünft loskichern - etwa als Irene Butter von ihrer stürmischen Überfahrt nach Amerika in einem billigen Metallschiff erzählt, das aus Sicht der Passagiere bestimmt in der Mitte des Ozeans auseinanderbrechen wird. Die Mädchen sind begeistert von dieser 91-jährigen Dame: Wie sie nie aufgegeben, immer weitergemacht hat und noch im hohen Alter voller Energie und Kraft ihr Leben führt. Sie würden diese Gespräche "nie vergessen".
"Wir werden die Geschichte weitertragen"
Irene Butter gibt ihre ganze Kraft ins Erzählen, um die Geschichte am Leben zu halten: "Sechs Millionen Juden können nicht darüber sprechen, sie können nie darüber sprechen", sagt sie den Mädchen immer wieder - und so sei es "eine Pflicht", darüber zu sprechen. Ida, Lonneke, Mathilda und Milla haben die Botschaft verstanden. "Wir werden die Geschichte weitertragen", sagen sie am Ende des neunteiligen Podcasts. Und man hört, dass sie es auch genauso meinen.