Juden auf dem Bahnsteig von Pithiviers (südlich von Paris) vor ihrer Deportation nach Auschwitz, aufgenommen vermutlich im Mai 1942. © dpa - Bildarchiv

Juden, Sinti, Roma: NS-Regime deportiert Tausende Hamburger

Stand: 20.05.2020 09:26 Uhr

Am 20. Mai 1940 beginnt das NS-Regime in Hamburg seine systematischen Deportationen. Nach Sinti und Roma verschleppen die Nazis bald auch Juden nach Osteuropa. Nur wenige überleben.

von Dirk Hempel

Vor 80 Jahren, rund neun Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem Überfall auf Polen und dessen Besetzung, beginnen in Hamburg am 20. Mai 1940 die systematischen Deportationen, zuerst von Angehörigen der Sinti und Roma, bald auch von Menschen jüdischer Herkunft. Seit Jahren sind sie von den NS-Behörden im ganzen Land erfasst, entrechtet und verfolgt worden. Jetzt sollen sie auf Befehl Heinrich Himmlers, des "Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei", in den Osten geschafft, soll ihr Besitz geraubt, ihre Arbeitskraft ausgebeutet werden.

Deportationen beginnen mit Sinti und Roma

Der Hannoversche Bahnhof um 1941. © Deutsches Zollmuseum
Vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg werden zwischen 1940 und 1945 mehr als 7.000 Juden, Roma und Sinti aus Hamburg und Norddeutschland in den Tod geschickt.

Mehr als 900 Sinti und Roma hat die Kriminalpolizei vier Tage zuvor in Hamburg, Bremen, Kiel, Flensburg und anderen norddeutschen Städten verhaftet - Männer, Frauen und Kinder. Mit Lastwagen und Bussen sind sie in den Hamburger Hafen gebracht und im Fruchtschuppen C zusammengepfercht worden. Dort werden sie registriert und müssen ihre Papiere und Wertsachen abgeben. Dann treibt die Polizei sie zum nahegelegenen Hannoverschen Bahnhof, dem zentralen Güterbahnhof der Stadt. Auf dem Bahnsteig herrscht großes Gedränge. Überall stehen Polizisten.

Auch Kinder müssen Zwangsarbeit leisten

Leichen von Massenerschießungen im polnischen Bełżec werden 1942 in einem Graben verscharrt. © picture-alliance / Imagno
Eine Aufnahme von 1942 dokumentiert die Massenerschießungen im polnischen Bełżec.

Drei Tage dauert die Fahrt in den überfüllten Güterwaggons nach Bełżec in Polen, wo die Sinti und Roma in ein Zwangsarbeiterlager gesperrt werden. Bis zum Sommer 1940 müssen hier auch die Kinder schwerste Arbeiten verrichten. Sie heben einen Panzergraben aus, als Grenzsicherung gegen die nahe Sowjetunion. Nahrung ist knapp, fließendes Wasser gibt es nicht, auch keinen Arzt. Viele sterben. Die Überlebenden werden später in ein Zuchthaus in Krychow gebracht und bei der Entwässerung des Moores und der Kanalisierung des Flusses Bug eingesetzt. Im folgenden Jahr transportiert die SS die Gefangenen in verschiedene Ghettos und das Konzentrationslager Auschwitz. Nur wenige überleben.

Ab Oktober 1941 werden auch Juden deportiert

Jüdische Männer 1941 in einer Fabrik im Ghetto im polnischen Lodz. © picture alliance / prisma Foto: Schultz Reinhard
Im Ghetto im polnischen Lager Łódź müssen Tausende deportierte Juden Zwangsarbeit für die Wehrmacht und Privatfirmen leisten.

In Hamburg werden die Deportationen vom Hannoverschen Bahnhof am 25. Oktober 1941 fortgesetzt. Diesmal verschleppen die NS-Behörden 1.034 Juden in das Ghetto im polnischen Łódź. NS-Gauleiter Karl Otto Kaufmann, seit Ende der 1930er-Jahre Chef der hamburgischen Staats- und Gemeindeverwaltung, hat sich persönlich bei Hitler für ihren Abtransport eingesetzt. Er will ihre Wohnungen an andere Hamburger verteilen, die kurz zuvor bei einem schweren Bombenangriff obdachlos geworden sind. Im Ghetto Łódź leben die Deportierten im Elend. Tausende leisten hier Zwangsarbeit für die Wehrmacht - und auch private Firmen. In den folgenden Jahren werden 200.000 Menschen aus dem Łódźer Ghetto in den nahen Vernichtungslagern Chelmno und Auschwitz ermordet.

In vielen deutschen Städten beginnt das NS-Regime im Oktober 1941, die Juden systematisch in den Osten zu deportieren. Sie werden zunächst in Ghettos und Arbeitslager in Polen und den besetzten Gebieten der Sowjetunion transportiert und später von dort in die Vernichtungslager. Seit 1942 fahren die Deportationszüge der Reichsbahn von Deutschland aus auch sofort nach Majdanek, Sobibor und Auschwitz.

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Die Aufnahme von 1941 zeigt eine Gruppe jüdischer Frauen und Kinder auf einer Straße in Minsk. © Bundesarchiv Foto: Ernst Herrmann

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Tausende Hamburger werden im Osten ermordet

Im November 1941 werden weitere 1.955 Juden mit zwei Transporten von Hamburg aus nach Minsk gebracht, wo sie zunächst in einem Lager Zwangsarbeit leisten müssen. Viele von ihnen werden im Mai und September 1943 erschossen oder in Lastwagen mit Abgasen erstickt. Anfang Dezember 1941 deportieren die NS-Behörden 753 Juden aus Hamburg, Lüneburg und Lübeck in die lettische Hauptstadt Riga. Unter ihnen befindet sich auch der Hamburger Oberrabbiner Dr. Joseph Carlebach mit seiner Frau und drei Töchtern. Im Lager organisiert Carlebach heimlich den Schulunterricht und leistet religiösen Beistand. Doch im Frühjahr 1942 werden er und seine Familie in einem nahen Wald erschossen.

Noch zwei Mal deportieren die NS-Behörden auch weitere Hamburger Sinti und Roma in den Osten, in das "Zigeunerlager", wie es im NS-Sprachgebrauch heißt, einem Teil des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, wo die meisten von ihnen ermordet werden.

Deportationen aus Hamburg: Beifall statt Protest

Straßenschild Joseph-Carlebach-Platz © NDR Foto: Tina Zemmrich
Im Hamburger Grindelviertel erinnert heute unter anderem der Joseph-Carlebach-Platz an die Ermordung des Oberrabiners in Riga 1942.

Tausende weitere Menschen deportieren die NS-Behörden bis 1945 noch aus Hamburg, fahren 18 weitere Züge vom Hannoverschen Bahnhof in die Ghettos und Lager Mittel- und Osteuropas. Die Deportationen erfolgen nicht im Geheimen, sondern vor den Augen der Hamburger Bevölkerung. Die Sammelstellen liegen mitten in der Stadt, zumeist im Grindelviertel, etwa im Logenhaus am Dammtorbahnhof, im Jüdischen Gemeinschaftshaus (den heutigen Hamburger Kammerspielen) oder der Talmud-Tora-Schule. Manche Menschen sind schockiert und wenden sich ab. Geschäftsleute spenden zwar bei den ersten Transporten noch anonym Lebensmittel - doch Proteste gibt es zu keinem Zeitpunkt. Viele Hamburger begrüßen sogar die Verschleppung ihrer Mitbürger. Sie klatschen Beifall, wenn die Juden auf die Lastwagen steigen müssen, die sie zum Güterbahnhof bringen. Rufe wie "Gut, dass das Pack ausgekehrt wird!" werden laut. Und bei öffentlichen Auktionen ersteigern Zehntausende den Besitz der Deportierten.

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Transporte politischer Gegner

Doch nicht nur Transporte mit Sinti, Roma und Juden gehen vom Hamburger Güterbahnhof ab, auch politische Gegner verbannen die Nationalsozialisten von hier aus aus der Stadt. In den Jahren 1942 und 1943 zwingt das Regime mehr als 1.000 Hamburger, die zuvor im Zuchthaus oder im Konzentrationslager inhaftiert waren, in Straf- und Bewährungseinheiten der Wehrmacht. Sie müssen in der Sowjetunion, auf dem Balkan und in Afrika an vorderster Front kämpfen und besonders gefährliche Einsätze durchführen wie Minenräumen. Vier Fünftel dieser Soldaten sterben. 

Von den mindestens 8.071 Juden, Sinti und Roma, die zwischen 1940 und 1945 vom Hannoverschen Bahnhof deportiert werden, überleben nur einige Hundert, die genaue Zahl ist nicht zu ermitteln. Der letzte Transport verlässt die Hansestadt noch am 14. Februar 1945, wenige Wochen vor Kriegsende.

Die Verantwortlichen bleiben straffrei

Die Beamten der Hamburger Verwaltung, die an den Deportationen beteiligt waren - Finanzbeamte, Beamte der Wohnungsämter, der Reichsbahn, der Ordnungs- und Kriminalpolizei - werden nie vor Gericht gestellt, sondern bleiben zumeist auch nach Ende der Nazi-Herrschaft im Amt.

Der Erinnerungsort heute

Der Hannoversche Bahnhof wird 1955 abgerissen, nur ein Teil eines Bahnsteigs ist erhalten geblieben. Heute befindet sich dort in der Hafencity der Lohsepark. Seit 2017 erinnert der Gedenkort "denk.mal Hannoverscher Bahnhof" an die Deportationen. 2023 soll ein Dokumentationszentrum eröffnet werden.

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Nordmagazin | 19.01.2020 | 19:30 Uhr

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