Esther Bejarano: Das Erbe der Hamburger Holocaust-Überlebenden
Esther Bejarano überlebte in der Nazi-Zeit das KZ Auschwitz - und wurde zur Mahnerin gegen Antisemitismus. Am 10. Juli 2021 starb die Holocaust-Überlebende nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat Hamburg.
"Frech wie Oskar" nannte ihr Vater sie, als Esther Bejarano ein kleines Kind war. "Brav" sein wollte sie auch in hohem Alter immer noch nicht: Wenn in ihrem Wohnort Hamburg ein Prozess gegen einen früheren KZ-Wächter lief, saß sie im Saal und nannte die Verhandlung "eine Farce" und "furchtbar". Wenn in ihrer Stadt Flüchtlinge drangsaliert wurden, schimpfte sie öffentlich, das sei "eine Schande für die Stadt". Und wenn irgendwo Neonazis aufmarschierten, sang sie laut mit Rappern gegen Rassismus und Antisemitismus an.
Bejaranos Engagement gegen das Vergessen
Bejarano mischte sich ein, weil sie aus Erfahrung wusste, dass allzu viele Menschen lieber weggucken. Als junge Frau hatte sie Auschwitz überlebt. Danach ging sie nach Palästina. In den 1960er-Jahren kehrte Bejarano nach Deutschland zurück. Damals merkte sie rasch, dass auch der Rechtsextremismus überlebt hatte. Jahrzehntelang engagierte sich Bejarano dafür, Auschwitz nicht zu vergessen. Sie war eine vielfach ausgezeichnete Friedensaktivistin und bekam das Große Bundesverdienstkreuz.
"Du wirst noch Schlimmeres erleben"
Bejarano wurde als Esther Loewy im Saarland geboren. Ihr Vater Rudolf Loewy war Kantor einer jüdischen Gemeinde. Esther war das jüngste von vier Geschwistern. In ihrem Buch "Erinnerungen" beschrieb sie ihre unbeschwerte Kindheit in einem musikalischen Elternhaus. Doch als Esther zehn Jahre alt war, änderte sich ihre Welt: "Der Antisemitismus machte sich breit." Sie und ihre Geschwister, alle jüdischen Kinder, durften plötzlich nicht mehr auf "arische" Schulen. Bejarano erzählte, wie damals die Repressionen zunahmen. Wie Freunde und Familienmitglieder ins Ausland flohen vor der immer wilderen NS-"Rassenpolitik".
Esther wurde schließlich von ihren Eltern in ein Vorbereitungslager zur Auswanderung nach Palästina geschickt. Doch zur Emigration kam es nicht mehr. 1941 steckten die Nazis sie und andere Auswanderungswillige in Zwangsarbeiterlager. Bei einer Konfrontation mit Polizisten brach die 16-jährige Esther in Tränen aus. "Hab dich nicht so, du wirst noch Schlimmeres erleben", sagte man ihr da.
Im Viehwaggon nach Auschwitz
Am 20. April 1943 stieg Esther in Auschwitz aus einem Viehwaggon. In Ihrem Buch erinnerte sie sich, wie bei der Ankunft alle Kranken, Mütter mit kleinen Kindern, Schwangere und Ältere ausgesondert wurden. "Sie fuhren in die Gaskammern, was wir damals noch nicht wussten." Die anderen Gefangenen mussten sich vor den SS-Männern ausziehen und nackt die Haare scheren lassen. Dann wurde ihnen eine Nummer auf den Arm tätowiert. "Ich bekam die 41948. Namen wurden abgeschafft, wir waren nur noch Nummern." Sie und ihre Mitgefangenen schliefen auf Brettern, ohne Stroh und ohne Decken. Sie erhielten wenig Essen, mussten Steine schleppen. "Sie waren so schwer, dass einige Frauen schlappmachten." SS-Wächter prügelten auf die Geschwächten ein. Esther war zierlich und nur 1,48 Meter groß. "Ich glaube, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, aus dieser Kolonne rauszukommen, wäre ich elendig zugrunde gegangen."
Esther muss die Musik zum Sterben spielen
Doch Esther hatte Glück. Sie wurde gefragt, ob sie im Lager-Orchester mitwirken kann. Gesucht wurde eine Akkordeonspielerin. Obwohl sie das Instrument gar nicht beherrschte, sagte sie zu. Es gelang ihr, die richtigen Töne zu treffen. Das war ihre Rettung. Zwar war die Verpflegung für die Orchestermitglieder genauso karg wie für alle anderen, doch die schwere, tödliche Arbeit in den Außenlagern von Auschwitz blieb ihnen erspart. "Täglich sahen wir abgemagerte Leichen auf den Straßen liegen. Wir sahen tote Frauen am Stacheldraht hängend. Frauen, die aus ihrer Verzweiflung an den geladenen Zaun liefen, um ihrem Leben ein Ende zu machen." Das Orchester spielte, wenn die anderen zur Arbeit abmarschierten. Bejarano erzählte auch, wie sie am Tor stehen und Musik machen mussten, wenn neue Opfer für die Gaskammern angeliefert wurden. "Als die Menschen die Musik hörten, dachten sie sicher, wo Musik spielt, kann es ja so schlimm nicht sein."
Das Akkordeon ist die Rettung
Esther erkrankte an Typhus. Mit hohem Fieber kam sie ins Lazarett. Wie alle jüdischen Häftlinge bekam sie keine Medikamente. Sie war dem Tode nah. Doch offenbar rettete sie ihre Bedeutung für das Orchester: Ein wichtiger SS-Mann sorgte dafür, dass Esther doch Medizin erhielt und gesund gepflegt wurde. Ihr Fürsprecher war Otto Moll, der in Auschwitz-Birkenau die Gaskammern und Krematorien leitete. Ausgerechnet der gefürchtete Sadist Moll fühlte sich für die Musik im Lager verantwortlich. Ein Mann, der Gefangene von seinen Hunden zerfleischen ließ und Kinder bei lebendigem Leib verbrannte.
Nach einigen Wochen spielte Esther wieder im Orchester mit, wenn andere Gefangene zum Sterben abgeführt wurden. Als eine bessere Akkordeonistin auftauchte, übernahm sie die Blockflöte. Doch dann bekam sie Keuchhusten und konnte vorerst nicht mehr spielen. Moll sorgte dafür, dass sie eine Zeit lang nicht bei den Proben mitmachen musste. "Was ihn dazu bewegt hat, weiß ich nicht."
Genug "arisches Blut", um leben zu dürfen?
"Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück", sagte Bejarano Jahrzehnte später. Eines Morgens wurden die Gefangenen, die "arisches Blut in ihren Adern" hatten, aufgefordert sich zu melden. Sie sollten verlegt werden. Esther hatte eine christliche Großmutter. Es sei ihr schwer gefallen, ihre Mithäftlinge zu verlassen, doch: "Meine Freundinnen meinten, ich hätte geradezu die Pflicht zu versuchen herauszukommen, damit ich erzählen könnte, was für schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden." Esther wurde mit 70 weiteren Frauen ins KZ im brandenburgischen Ravensbrück gebracht. Dort musste sie für die Siemens-Werke arbeiten. Als sich im April 1945 die Sowjettruppen näherten, zwangen die Nazis die Insassen zum "Todesmarsch" ins mecklenburgische Malchow. Esther überlebte. In den Wirren der letzten Kriegstage konnte sie entkommen. Sie wurde von US-Soldaten gerettet. Diese hätten ihr sogar ein Akkordeon geschenkt. In ihren Erinnerungen beschrieb Bejarano, wie die Sieger auf einem Marktplatz ein großes Porträt von Adolf Hitler anzündeten. "Die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum, und ich spielte Akkordeon."
Nach 15 Jahren Israel Rückkehr nach Deutschland
Erst nach dem Krieg erfuhr Esther, dass ihre Eltern und ihre Schwester Ruth umgebracht wurden. Sie verbrachte die nächsten 15 Jahre in Israel, machte eine Ausbildung als Sängerin. Sie heiratete Nissim Bejarano und bekam zwei Kinder. Ihr Mann war Kommunist - er kam mit den politischen Verhältnissen immer weniger zurecht. Und Esther ertrug die Hitze in Israel nicht. 1960 beschlossen sie, das Land zu verlassen. Trotz vieler Zweifel entschieden sie sich, nach Deutschland zu gehen. Sie zogen nach Hamburg, weil sie von Freunden hören, dass die Stadt schön sei und die Menschen freundlich. Sie eröffneten eine kleine Wäscherei. Nissim arbeitete zusätzlich in einem Hähnchengrill auf der Reeperbahn, später eröffnete er in Uetersen eine Diskothek. Doch sie mussten den Club dort wieder schließen, laut Bejarano wurden sie von antisemitischen Einwohnern vertrieben. Zurück in Hamburg ging es aufwärts. Esther eröffnete eine Boutique, ihr Mann wurde Feinmechaniker, ihr Sohn Versicherungskaufmann, ihre Tochter Sängerin.
Vergangenheit holt sie ein
In den 70er-Jahren holte ihre Vergangenheit sie wieder ein. Bejarano erzählte, wie in der Nähe ihres Ladens Mitglieder der rechtsextremen NPD einen Infostand aufbauten. Sie musste mit ansehen, wie die Polizei gewaltsam gegen Menschen vorging, die gegen die Neonazis protestierten.
Ich sah, wie Neonazis ihre Flugblätter verteilten, wie sie auf Gegner einschlugen. Ich sah, wie die Polizisten daraufhin die Antifaschisten verhafteten. Das war zu viel für mich. Die Polizisten schützten die Nazis. Ich sagte denen, ich sei im KZ gewesen und ich könne nicht begreifen, dass sie die Nazis schützten. Da sagte einer der Polizisten, in Russland gäbe es auch KZs und außerdem sollte ich nach Hause gehen, sonst würde ich noch einen Herzinfarkt bekommen. Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano 30 Jahre nach Auschwitz
"Jetzt wusste ich, dass ich anfangen musste, antifaschistische Arbeit zu machen", sagte sie rückblickend.
Bejaranos Engagement gegen rechts
Esther Bejarano war danach auf Hunderten Veranstaltungen gegen Rechtsextremismus. Über ihr Leben schrieb sie gemeinsam mit anderen Autorinnen zwei Bücher. Sie erzählte in Schulen von ihrer Zeit in Auschwitz.
Sie protestierte auf Demos gegen Neonazis. Sie übernahm den Vorsitz des deutschen Auschwitz-Komitees. Sie ergriff das Wort für Flüchtlinge und sang mit der Band Microphone Mafia auf Konzerten gegen rechts. Sie mischte sich ein, wo immer sie es für notwendig hielt: Kurz vor ihrem 95. Geburtstag zum Beispiel schrieb sie einen offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), nachdem der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) wegen des Verdachts des Linksextremismus die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. "Das Haus brennt - und Sie sperren die Feuerwehr aus!", beklagte Bejarano. Sie war Ehrenvorsitzende der VVN-BdA.
Zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs hatte sie sich im vergangenen Jahr noch in einer Petition dafür eingesetzt, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu machen.
Obwohl Bejarano hier lebte, sei Deutschland nie wieder ihre Heimat geworden: "Weil noch zu viele Nazis hier herumlaufen, die mich an das Vergangene erinnern."
Würdigung durch den Bundespräsidenten
Nach dem Tod der 96-Jährigen am 10. Juli 2021 kondolierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihren beiden Kindern. "Wir verlieren mit ihr eine mutige Persönlichkeit, die sich bis zuletzt für die Verfolgten des Naziregimes eingesetzt hat", schrieb er. Es sei der Verstorbenen eine innere Verpflichtung gewesen, die Erinnerung an die Greueltaten des Naziregimes wach zu halten. Steinmeier erinnerte auch an Bejaranos Auftritte als Sängerin. "Wer sie je in ihrem musikalischen Element erlebt hat, wird sich immer daran erinnern: So mitreißend war sie!"
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter: "Heute Nacht ist eine wichtige Stimme im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus von uns gegangen."
Letzte Ruhe auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf
Am 18. Juli wurde Esther Bejarano auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf beigesetzt. Hunderte Trauernde kamen auf den Friedhof und verfolgten die ins Freie übertragene Trauerfreier auf Video-Leinwänden. "Wir werden ihr Andenken würdigen und uns dafür einsetzen, ihre Botschaft weiterzutragen", sagte Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) beim Abschied von der Frau, die trotz großen persönlichen Leids ihr Leben lang gegen Rassismus und Antisemitismus gekämpft hat.