Verhaftet, gefoltert: Malchows Opfer der "Werwolf"-Tragödie
Dieser Teil der Nachkriegsgeschichte wurde in der DDR verschwiegen: Tausende Kinder und Jugendliche wurden in der sowjetischen Besatzungszone fälschlich beschuldigt, der Nazi-Organisation "Werwolf" angehört zu haben.
In Malchow ist am Volkstrauertag 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Gedenktafel für diese jungen Opfer politischer Säuberungen enthüllt worden. Denn viele von ihnen wurden nicht nur beschuldigt: Sie verschwanden, wurden vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet. Viele starben in Verhör-Kellern oder Speziallagern.
Unter "Werwolf"-Verdacht von russischen Soldaten verhaftet
Der Neubrandenburger Horst Vau hatte einen älteren Bruder: Karl-Heinz. Vor 75 Jahren hat er ihn zuletzt gesehen. Karl Heinz Vau ist Ende 1945 erst 16 Jahre alt, als er im Penzliner Tanzsaal von russischen Soldaten verhaftet wird. Angeblich soll er für die nationalsozialistische "Werwolf"-Organisation im Untergrund gegen die Sowjetarmee gekämpft haben.
Horst Vau erzählt, dass er als kleiner Junge damals nur wenig von den Umständen des Verschwindens seines Bruders mitbekommen hat. Er erinnert sich aber: "Die Nachricht hat uns der Opa am nächsten Morgen überbracht, das war ein Wochenende. Meine Mutter und mein Vater, die waren natürlich entsetzt!". Der Krieg ist damals schon ein halbes Jahr vorbei und das Leben beginnt sich langsam zu normalisieren. Doch im Dezember 1945 und zu Beginn des neuen Jahres 1946 verschwinden 13 Penzliner Jugendliche spurlos. Unter ihnen sind Horst Vaus großer Bruder Karl-Heinz und sein Freund Erwin Wendt.
Spurloses Verschwinden eine lebenslange Wunde
Unvergessen ist bis heute die tiefe Verzweiflung der Mütter. Für den 82-jährigen Horst Vau bleibt die Erinnerung daran eine lebenslange, nie heilende Wunde. Damals sitzt der Siebenjährige immer am Fenster und spielt mit Holzautos, als regelmäßig die Tür aufgeht und die Mutter von Erwin Wendt hereinkommt, der zusammen mit dem Bruder von Horst verhaftet wurde. "Die kam immer zu uns und dann liefen bei meiner Mutter und bei der Frau Wendt die Tränen. Und das ist dann eigentlich der Auslöser gewesen, dass ich begonnen habe, über das Schicksal meines Bruders nachzuforschen." Öffentlich gesprochen haben die Frauen damals über ihre Sorgen und Ängste nicht, nur hinter zugezogenen Gardinen und geschlossenen Türen. Das Schweigen über die Verhaftungen dauert Jahrzehnte an.
Selbst die Familien haben geschwiegen
Auch in der Familie von Birger Birkholz, Jahrgang 1965. 20 Jahre vor seiner Geburt verschwindet in Malchow sein Onkel Heinz. Über ein halbes Jahrhundert wird darüber selbst innerhalb der Familie nicht gesprochen, erinnert sich Birkholz: "Es war immer so, dass bei meinen Großeltern im Wohnzimmer ein Bild stand. Von dem Onkel Heinz. Das sah meinem Vater sehr ähnlich. Und ich habe früher immer gedacht, das wäre mein Vater. Es wurde ja nicht drüber gesprochen. Es stand ein Bild da und, ja, Heinz war nicht mehr da." Doch Birger Birkholz lässt das Schicksal des unbekannten Onkels nicht los. Seit einigen Jahren erforscht auch er dieses Kapitel seiner Familiengeschichte aus Malchow.
33 Jungen und Mädchen in Malchow verhaftet
Malchow ist bei Kriegsende von der Roten Armee besetzt. Zwischen 1945 und 1946 werden 33 Jungen und Mädchen von der sowjetischen Geheimpolizei (GPU) verhaftet. Sie sollen kurz vor Kriegsende sogenannte Werwölfe gewesen sein - rekrutiert von den Nationalsozialisten mit dem Ziel, den Kampf in den bereits besetzten Gebieten weiterzuführen. Angst geht um, auch in der Familie Birkholz, erzählt Birger Birkholz, der Neffe der damals jugendlichen Brüder Heinz und Horst.
Sein Onkel Heinz stellt sich den Sowjets damals sogar: "Man war eigentlich zunächst hinter Heinz hinterher, aber der war geflohen und nicht auffindbar. Daraufhin hat man seinen jüngeren Bruder Horst geholt. Als Geisel. Und hatte gesagt: 'Wenn Heinz sich meldet, dann wird Horst freigelassen.' Daraufhin hat Heinz sich gestellt. Nur wurde Horst nicht entlassen, sondern es wurden beide inhaftiert." Die Mutter der Brüder hatte Heinz gebeten, sich nicht länger zu verstecken, um den jüngeren Horst frei zu bekommen. Denn ihre Söhne hatten sich ja nichts zu Schulden kommen lassen. Ihr Leben lang habe sie sich deshalb große Vorwürfe gemacht, erzählt Enkel Birger Birkholz.
Tausende Jugendliche werden Opfer politischer Säuberungen
Insgesamt sind nach Kriegsende in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auch Tausende Minderjährige Opfer politischer Säuberungen geworden, wie Anne Drescher sagt, die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für Mecklenburg-Vorpommern. Bis heute wenden sich Angehörige damals verschwundener Jugendlicher mit der Bitte um Hilfe bei der Klärung von Schicksalen an die Landesbeauftragte. Wie viele Jugendliche genau betroffen waren, lässt sich heute nicht mit Gewissheit sagen. Schätzungen gehen von mindestens 10.000, womöglich aber auch 20.000 Fällen zwischen 1945 und 1950 aus.
Nahezu jeder Ort im heutigen Mecklenburg-Vorpommern ist laut Drescher in den Monaten nach Kriegsende betroffen. Jugendliche der Jahrgänge 1927 bis 1932 wurden allerorten abgeholt. Ein Vorwurf: Sie sollen angeblich zur letzten Kampfreserve des Nazi-Regimes gehört haben. 1946 sind in der SBZ allein wegen des Verdachts einer "Werwolf"-Tätigkeit bereits mehr als 3.000 Jugendliche verhaftet. Doch tatsächlich waren die jungen Menschen gar keine Partisanen. Die Alliierten hätten den sogenannten "Werwolf"-Mythos, der auch heute noch von Rechtsextremisten instrumentalisiert wird, damals sehr unterschiedlich bewertet, so Drescher. Die westlichen Siegermächte hätten sehr schnell erkannt, dass sich die Jugend in der kriegsmüden deutschen Bevölkerung im April 1945 kaum noch für die von Heinrich Himmler im September 1944 gegründete "Werwolf"-Organisation hat mobilisieren lassen.
Deutscher Vernichtungskrieg "setzte Hemmschwelle herab"
Die Sowjets hingegen seien wesentlich skeptischer gewesen. "Der NKWD (Innenministerium und zeitweise politischer Geheimdienst der damaligen UdSSR, Anm. d. Red.) und in der SBZ die Rote Armee, die sind da sehr, sehr vorsichtig gewesen", so die Landesbeauftragte. "Wir müssen uns das auch von der Geschichte der damaligen Zeit her vorstellen: Die Rote Armee hat erlebt, wie die Deutschen den Vernichtungskrieg in ihrem Land durchgeführt haben. Mit Millionen Toten, mit zerstörten Innenstädten. Dann erlebten sie in den letzten Kampftagen noch einen erbitterten Widerstand, der schon ans Fanatische grenzte. Und das setzt die Hemmschwelle sehr herab." So wurden selbst Jugendliche diffamiert, denunziert und oft auch aufgrund von Gerüchten in den Städten und Dörfern abgeholt. Über ihren Verbleib erfahren die Familien damals zunächst nichts.
13 Jugendliche sterben im Keller der Villa Blanck
Überall in der SBZ und auch in Mecklenburg gibt es damals Verhörkammern und Keller des Sowjetischen Geheimdienstes NKWD. In Malchow nutzen die Sowjets die frühere Villa Blanck. Auch die beiden Onkel von Birger Birkholz werden im Januar 1946 hier festgehalten und verhört. Allein 13 der verhafteten Malchower Jugendlichen sterben im Keller der Villa. Heute ist das Haus ein Ferienobjekt. Manche der ehemals Inhaftierten sind nach Jahrzehnten und nach dem Ende der DDR an diesen Ort zurückgekehrt. Um mit dem Grauen umzugehen, so wie der zwischenzeitlich verstorbene Detlev Putzar. Als 16-Jähriger ist er hier gefoltert worden, bis zum März 1951 im Zuchthaus Untermaßfeld inhaftiert. Es gibt lediglich Zeichnungen, die das Geschehen in den Lagern und Verhör-Kellern dokumentieren, so wie die des 2018 in Sternberg verstorbenen Künstlers Wilhelm Sprick, der zunächst in Geheimdienst-Kellern in Waren und Röbel festgehalten und 1946 vom Sowjetischen Militärtribunal in Schwerin zu hohen Haftstrafen verurteilt wurde.
Tribunale und Todesurteile nach erpressten Geständnissen
Die Jugendlichen werden damals verurteilt wie erwachsene Straftäter. Denn nach dem russischen Strafbuch sind Menschen ab dem vollendeten zwölften Lebensjahr voll strafmündig, so Anne Drescher. Bei den Verhören werden Geständnisse durch Folter erpresst, verhört wird oft nachts und in russischer Sprache. "In den Tribunalen und Prozessen gab es keinen Verteidiger, man hatte keinen Anwalt dazu gezogen. Es gab keine Beweise. Der einzige Beweis, der in den meisten Fällen vorlag, waren die Vernehmungsprotokolle und die Geständnisse derjenigen, die befragt wurden", erzählt Drescher. "Und die U-Haft und diese 'Geständnisproduktion' lief so lange, bis die Protokolle unterschrieben wurden."
Mit schwerwiegenden Folgen: Heinz Birkholz wird zum Tode verurteilt und im August 1946 in Güstrow hingerichtet. Sein Bruder Horst Birkholz wird von einem sowjetischen Militärtribunal zu 20 Jahren Haft in Bautzen verurteilt.
Karl-Heinz Vau soll für zwölf Jahre in ein Internierungslager. Im März 1948 stirbt er im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Seine Eltern sterben, ohne je erfahren zu haben, wo ihr ältester Sohn geblieben ist.
Schweige-Erklärung und Überwachung durch die Stasi
Rund 8.000 der verurteilten Jugendlichen in der SBZ überleben die Haft in Gefängnissen und Lagern. Sie müssen nach ihrer Entlassung in der DDR eine Schweige-Erklärung unterschreiben und werden von der Stasi überwacht. Viele der Überlebenden gehen in den Westen, so auch der Onkel von Birger Birkholz, Horst. 97 Monate hat er in Bautzen verbracht. Bis heute lebt er in der Nähe von Krefeld. Sein Neffe hatte in der DDR kaum etwas von seiner Geschichte erfahren. "Es gab wenig Kontaktmöglichkeiten", so Birkholz. "Telefon, alles das, war ja nicht machbar. Und insofern war das Thema auf der einen Seite Ungewissheit und auf der anderen Seite möglicherweise auch ein kleines Schuldgefühl."
Späte Rehabilitierung erst nach dem Mauerfall
Erst nach Jahrzehnten des Schweigens gibt es Aufklärung für die Familien, als nach dem Mauerfall die russischen Archive und die Stasi-Akten geöffnet werden. Tausende Verurteilte werden vom russischen Staat rehabilitiert, auch Karl-Heinz Vau und Heinz Birkholz, so die Landesbeauftragte Anne Drescher: "Sie sind ja nicht schuldig gewesen, sie sind völlig unschuldig in diese Lager gekommen. Sie haben gelitten für etwas, was sie nicht getan haben. Und sie verlangten natürlich auch eine Rehabilitierung, damit sie nicht als NS-Täter oder Kriminelle und Vorbestrafte in der Öffentlichkeit dastehen."
Stilles Gedenken 75 Jahre nach Kriegsende
Heute erinnert vor der früheren Villa Blanck ein Gedenkstein an die "Werwolf"-Tragödie von Malchow. Erinnerung und Mahnung zugleich. Regelmäßig finden hier Gedenkveranstaltungen statt. Der 82-jährige Host Vau, der seinen Bruder Karl-Heinz durch die stalinistische Härte verloren hat, sagt: "Und dann gibt es noch ein Versprechen, das wir den Toten gegeben haben. Dass wir Lebende ihnen wieder eine Stimme geben." Horst Vau hat sich dafür eingesetzt, dass auch die Namen der Jugendlichen aus Malchow nicht vergessen werden, auch nicht die von Heinz und Horst Birkholz. Nun erinnert eine Tafel mit allen Namen an die 33 Mädchen und Jungen aus Malchow, die verhaftet wurden, als der Krieg längst vorbei war. Keiner dieser Jugendlichen war wirklich ein "Werwolf" der Nazis.