Anita Lasker-Wallfisch: Die Cellistin von Auschwitz
Anita Lasker-Wallfisch ist 18 Jahre alt, als die Nationalsozialisten sie im Dezember 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportieren. Dass sie ein Instrument - das Cello - beherrscht, rettet der Jüdin das Leben.
"Wir wussten von Gaskammern. Ich habe darauf gewartet, vergast zu werden", erzählt Lasker-Wallfisch über ihre Ankunft im Lager. Doch stattdessen wird sie Teil des Frauen- beziehungsweise Mädchenorchesters von Auschwitz, zu dem auch die im Juli 2021 verstorbene Esther Bejarano gehört. Dieses Orchester wird damals gerade von Alma Rosé zusammengestellt. Die Geigerin ist Tochter von Arnold Rosé - langjähriger Konzertmeister der Wiener Oper - und Nichte des österreichischen Komponisten Gustav Mahler. Am Anfang gibt es Blockflöten und Mandolinen. "Die haben noch kein Cello gehabt", berichtet Lasker-Wallfisch. "Endlich kommt jemand, der tiefe Noten spielen kann. Das war mein Glück."
Wohlbehütet und mit viel Musik aufgewachsen
Anita Lasker wird am 17. Juli 1925 in Breslau geboren. Sie wächst wohlbehütet in einer gutbürgerlichen, assimilierten und sehr musikalischen jüdischen Familie auf. Sie ist die jüngste von drei Schwestern. Ihre Mutter Edith, geborene Hamburger, ist eine leidenschaftliche Violinistin, ihr Vater, Dr. Alfons Lasker, ist als Anwalt und Notar am Oberlandesgericht tätig. Der Vater liest seinen Kindern Schiller und Goethe vor. Die Kinder erfahren Liebe und Geborgenheit. Es herrscht eine fröhliche Atmosphäre im Haus der Laskers. Und Musik ist immer dabei. Das sei etwas völlig Natürliches gewesen, so Lasker-Wallfisch.
Ausbildung zwischen Fördern und Fordern
Die Erziehung der Kinder ist durchaus streng. Sie werden gefördert, aber auch gefordert. Herumzulungern oder zu trödeln ist verpönt. Alle drei Schwestern lernen ein Musikinstrument, die begabte Anita erhält Cello-Unterricht. Warum es ausgerechnet das Cello geworden ist, kann sie selbst nicht genau erklären. Sie habe als Dreijährige mal mit einem Besenstiel und einem Kamm so getan, als würde sie Cello spielen. Daraufhin besorgten ihre Eltern dieses Instrument.
Situation für Juden verschlechtert sich
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wird der Musikunterricht in Breslau schwierig. Viele jüdische Musiker emigrieren, andere wollen kein jüdisches Kind unterrichten. Anita lernt dann als 13-Jährige in Berlin bei Leo Rostal Cello. Nach der Reichspogromnacht 1938 kehrt sie nach Breslau zurück. Alle Bemühungen der jüdische Familie, Deutschland zu verlassen, scheitern. Nur der ältesten Schwester Marianne gelingt es 1939, nach England zu fliehen.
Die Lebensumstände werden immer bedrückender. Die Eltern erhalten im April 1942 den Deportationsbefehl nach Isbica bei Lublin. Sie werden irgendwo im Osten erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Anita kommt mit ihrer Schwester Renate in ein Waisenhaus. Ein Fluchtversuch nach Frankreich mit gefälschten Papieren scheitert, beide werden inhaftiert. Mit ihrer Schwester muss Anita Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten.
Gesehen "wie die Menschen in Rauch verwandelt wurden"
Ende 1943 werden Anita und wenig später auch Renate ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Musik und der Zusammenhalt der Musikerinnen retten beiden das Leben. Das Orchester spielt Märsche bei Auszug und Rückkehr der Arbeitskolonnen und vor den Gaskammern. "Wir konnten alles sehen", berichtet Anita Lasker-Wallfisch in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag 2018, "wie die Menschen in Rauch verwandelt wurden". Das Orchester muss auch zur Unterhaltung der SS Schlager und Operettenmelodien aufspielen - und Anita einmal eigens für den berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele Robert Schumanns "Träumerei". Was einerseits bizarr und zynisch erscheint, entbehrt andererseits nicht einer gewissen Logik: "Das war lebensrettend. Denn solange sie [die Nazis, Anm. d. Red.] dieses Orchester wollten, wäre es dumm gewesen, uns ins Gas zu schicken", sagt Anita Lasker-Wallfisch.
"Musik ist etwas, das den Menschen erhebt über die raue Wirklichkeit seines Lebens." Anita Lasker-Wallfisch
Alltag im KZ: Vergasen, erschießen, verbrennen
Als im Herbst 1944 sowjetische Truppen anrücken, werden die beiden Schwestern ins KZ Bergen-Belsen gebracht, wo Anita unter katastrophalen Bedingungen in einer Weberei arbeiten muss. Einen Tag nach der Befreiung Bergen-Belsens durch die britische Armee am 15. April 1945 berichtet sie im deutschen Programm der BBC über das Grauen in den Konzentrationslagern: dass die Gaskammern in Auschwitz nicht Schritt halten konnten. Dass die Krematorien nicht alle Menschen fassen konnten, die mit Transporten ankamen. Dass diejenigen, die in den Gaskammern keinen Platz hatten, erschossen wurden. Dass viele Menschen bei lebendigem Leib in die Flammen geworfen wurden. Über diese furchtbaren Ereignisse und auch über die Zustände in Bergen-Belsen sagt Lasker-Wallfisch 1945 als Zeugin im Prozess gegen das SS-Wachpersonal aus.
Ausreise nach England 1946
Der Wunsch der beiden Schwestern, nach England auszureisen, erfüllt sich erst nach einer langen Odyssee und Wartezeit als sogenannte Displaced Persons. 1946 erhalten sie die Einreiseerlaubnis. In England konzentriert sich Anita auf ihre Musikkarriere. Sie studiert an der Londoner Guild Hall School of Music. 1949 ist sie Gründungsmitglied des renommierten English Chamber Orchestra, mit dem sie als Ensemblemitglied und Solistin bis zur Jahrtausendwende weltweit auftritt. 1951 erhält sie die britische Staatsbürgerschaft, 1952 heiratet sie den Pianisten Peter Wallfisch (1924-1993), den sie bereits aus Breslau kennt.
Aus der Ehe stammen der 1953 geborene Sohn Raphael, der ebenfalls ein berühmter Cellist wird, und die Tochter Maya (geboren 1958), die keinen Zugang zur Musik findet und nach Lebenskrisen Psychotherapeutin wird. Auch die Enkel Benjamin, Joanna und Simon Wallfisch wenden sich der Musik zu, Mayas Sohn Abraham wird ebenfalls Cellist.
Schwester Renate wird erst Dolmetscherin und arbeitet später als Journalistin bei der BBC in London, den WDR in Köln und das ZDF in den USA.
Aufklärungsarbeit nach langer Zeit des Schweigens
Lange Zeit schweigt Anita Lasker-Wallfisch über ihre schrecklichen Erlebnisse. "Diese Welt gehört nur mir, und niemand soll sie betreten, warum sollte ich meine Tochter in eine Welt des Schreckens lassen?", sagt sie 2015 in einem Interview mit dem "SZ-Magazin". Erst Ende der 1980er-Jahre übergibt die Auschwitz-Überlebende den längst erwachsenen Kindern ihre aufgeschriebenen Erinnerungen. Diese erscheinen 1996 zunächst auf Englisch ("Inherit the Truth") und 1997 unter dem Titel "Ihr sollt die Wahrheit erben" auch auf Deutsch. Das Buch wird ein Welterfolg.
1994 kommt Lasker-Wallfisch das erste Mal seit ihrer Emigration nach Deutschland zurück und spricht auch in der Öffentlichkeit wieder Deutsch. Es folgen zahlreiche Vortragsreisen, auf denen sie insbesondere an Schulen und vor Jugendlichen über ihr Schicksal und das anderer Opfer des Holocaust berichtet. Sie fühle die "Verantwortung den Menschen gegenüber, die nicht überlebt haben", erklärt Lasker-Wallfisch 2005 in einem Interview mit dem "Handelsblatt". Dabei erzähle sie "so trocken und emotionslos wie möglich, (…) die einzige Art über solche Dinge zu sprechen". Es sei unmöglich, die Grausamkeiten in Auschwitz-Birkenau zu schildern, es gehe vor allem um den Versuch, "zu erklären, wie das Böse in Deutschland gewachsen ist, wo es geendet hat und wie es nach der Befreiung war."
Für Einsatz gegen Hass und Antisemitismus ausgezeichnet
2015 ist Anita Lasker-Wallfisch als eine der Überlebenden beim Besuch der englischen Königin Elizabeth II. in Bergen-Belsen anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung eingeladen. Für ihren Einsatz gegen Hass und Antisemitismus wird sie 2019 von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.
"Der Musik verdanke ich, dass ich hier bin", sagt die Cellistin in ihrer Corona-bedingt digitalen "Rede über das Jahrhundert" bei den Salzburger Festspielen 2020. Die Musik habe sie vor der Vernichtung gerettet und ihr später ins Leben zurückgeholfen.
Tochter Maya bringt 2020 im Suhrkamp-Verlag das Buch "Briefe nach Breslau: Meine Geschichte über drei Generationen" heraus. Darin geht es darum, wie ein generationenübergreifendes Thema das eigene Leben bestimmt.
Anitas Schwester Renate stirbt im Januar 2021 kurz vor ihrem 97. Geburtstag in Frankreich. Lasker-Wallfisch lebt seit 1946 im Londoner Stadtteil Queens Park.
Hinweis der Redaktion: In einer vorherigen Version des Artikels waren die Aussagen von Anita Lasker-Wallfisch zu den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen nicht klar genug voneinander abgegrenzt. Dies haben wir nun korrigiert.
Anita Lasker-Wallfisch im Interview (2015)
Holocaust-Überlebende Esther Bejarano
Das Konzentrationslager Bergen-Belsen
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau