Anita Lasker-Wallfisch © dpa Foto: Nicolas Armer

Lasker-Wallfisch: "Es ist leicht, nach rechts zu gehen"

Stand: 15.04.2020 17:27 Uhr

Anita Lasker-Wallfisch hat die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt. Das Cello war ihr Schutzschild, ihr Lebensretter. Denn sie spielte im Mädchenorchester von Auschwitz, als einzige Cellistin.

Wie wichtig die Musik sein kann, wie wichtig ein Instrument wie das Cello - das kann kaum eine Geschichte so eindringlich erzählen wie die Lebensgeschichte von Anita Lasker-Wallfisch. Ein Gespräch mit der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch zum 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen-Belsen.

Frau Lasker-Wallfisch, auch Sie wurden vor 75 Jahren befreit. 75 Jahre sind eine lange Zeit, vor allem aus Sicht jüngerer Generationen. Wie weit weg ist der Tag der Befreiung, die Herrschaft der Nationalsozialisten für Sie persönlich?

Anita Lasker-Wallfisch: Es ist weit weg, aber weil ich jetzt so viel gefragt werde und man so viel davon spricht, ist es wieder näher gerückt. Es war immer da. Man soll nicht glauben, dass solche speziellen Tage etwas hochbringen - im Grunde ist das immer im Hintergrund.

Sie wären in diesen Tagen eigentlich in Bergen-Belsen gewesen, um dort eine Rede zu halten. Das konnte wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Was hätten Sie denn gerne zu diesem 75. Jahrestag gesagt?

Lasker-Wallfisch: Ich hätte den Menschen, die uns damals geholfen haben, gedankt. Denn die Engländer, die da angekommen waren, waren vollkommen hilflos. Sie haben gemeint, sie befreien ein Gefangenenlager. Das war ja kein Gefangenenlager, das war ein Moratorium. Man muss auch manchmal Danke sagen. Die Engländer haben Fantastisches geleistet. Es war eine unmögliche Situation, die kann man sich gar nicht vorstellen. Der Krieg war noch nicht zu Ende, und die Engländer hatten keine Ahnung, was sie da vorfanden. Das war ein Pandämonium, die wussten überhaupt nicht, was sie mit uns machen sollen. Tausende von Menschen sind noch nach der Befragung gestorben, und es sind viele Fehler gemacht worden: Die Engländer, die gesehen haben, wie verhungert wir waren, haben uns ihre Essensrationen gegeben - was tödlich für viele Menschen war. Wenn man ausgehungert ist, kann man nicht plötzlich anfangen zu essen. Dank gebührt den Menschen, die uns damals geholfen haben.

Gibt es noch etwas, was Ihnen im Jahr 2020 besonders wichtig ist? Wo müssen wir heute noch hinschauen? Was dürfen wir auf keinen Fall aus dem Blick verlieren?

Lasker-Wallfisch: Dieser Coronavirus hat vielleicht auch eine positive Seite. Denn dieser Virus hat keinerlei Auswahl, wen er betrifft. Man muss erst einmal akzeptieren, dass wir alles Menschen sind, die auf zwei Beinen herumlaufen. Und dass es vollkommen gleichgültig ist, ob man zufällig - denn es ist ein kompletter Zufall - als Jude, als Zigeuner oder als jemand anders geboren wird. Das kann man nicht auswählen. Aber man kann absolut auswählen, wie man sich anderen Menschen gegenüber benimmt. Wenn alle Menschen gleich wären - so wie damals die Deutschen gemeint haben, alle müssten blond und blauäugig sein -, wäre es stinklangweilig auf dieser Welt. Mir ist es wichtig, der Jugend einzubläuen, dass man Respekt vor Menschen hat und die Frage, ob man jüdisch oder christlich ist, vollkommen nebensächlich ist. Die Menschenwürde soll erhalten bleiben - und nicht, dass sich jemand einbildet, dass er besser ist als ein anderer. Man hat ja gesehen, wozu das führt. Leider zeigt die Tendenz wieder sehr in diese schlechte Richtung.

Das sagt auch der Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Jens-Christian Wagner. Er meint, dass in den letzten Jahren provokante Fragen zugenommen hätten, dass Besucherinnen und Besucher der Gedenkstätte vermehrt versuchen, Widersprüche aufzudecken und den Holocaust grundsätzlich hinterfragen. Wie beurteilen Sie diese rechtsgerichteten Tendenzen?

Lasker-Wallfisch: Mit großer Angst. Es ist immer sehr leicht, nach rechts zu gehen. Um nach links zu gehen oder in der Mitte zu bleiben, muss man sein Gehirn anstrengen - und das tun wenige Leute. Es ist ein Skandal, dass da wieder so eine Partei aufgeblüht ist. Deutschland hat sich nach der Befreiung sehr anständig benommen. Es ist nichts geleugnet worden, und man hat versucht, es so gut wie möglich wiedergutzumachen. Aber "wiedergutmachen" ist natürlich ein vollkommen unsinniges Wort - da ist nichts wiedergutzumachen. Eventuell kann man es besser machen.

Gab es für Sie eigentlich jemals einen Punkt, an dem Sie auf keinen Fall sprechen, sondern alles mit sich ausmachen und lieber schweigen wollten?

Lasker-Wallfisch: Nein, so war das nicht. Aber als wir befreit worden sind und endlich da angekommen sind, wo wir ein Zuhause aufgebaut hatten, hat niemand eine Frage gestellt. Überall war das komplette Schweigen. Heute, in meinem vorgeschrittenen Alter, kann ich das gut verstehen. Es ist nicht so leicht, einen Menschen, der aus dem Konzentrationslager kommt, zu fragen, wie es dort war. Es gibt da eine Art von Hemmung - das verstehe ich heute. Die haben gemeint, man wird gleich ohnmächtig werden, wenn man gefragt wird. Wir waren wahnsinnig enttäuscht, denn wir wollten nach der Befreiung die Welt verändern. Wir wollten alles erzählen, was passiert war, und ab da werde es keinen Antisemitismus mehr gegeben usw. Für uns war das schon ein Riesenschock, dass niemand gefragt hat. Heute kann ich es gut verstehen, warum es einen Aufhänger gebraucht hatte. Und der Aufhänger war der 50. Jahrestag - da wurden plötzlich Fragen gestellt.

Wie ist das 75 Jahre danach? Spüren Sie da immer noch Hemmungen?

Lasker-Wallfisch: Nein, heute fragt man allerlei Fragen - da gibt es keine Hemmungen mehr. Das Wichtige ist, dass man am Tag danach nicht wieder alles vergisst - da muss man aufpassen. Es ist auch wichtig, gegen Leute zu kämpfen, die das versuchen zu leugnen, dass es Gaskammern gab. Das ist entsetzlich für uns, so etwas zu sehen und zu lesen.

Das Gespräch führte Andrea Schwyzer

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 15.04.2020 | 19:00 Uhr

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