1949: Holocaust-Überlebende verlassen Bergen-Belsen
"Nun, an dem klaren und sonnigen letzten Februartag, war es so weit. In den frühen Morgenstunden herrschte im Lager geschäftiges Treiben, ein Hasten und Jagen, ein Abschiednehmen", steht am 3. März 1949 in der "Hannoverschen Presse". Etwa 590 Bewohnerinnen und Bewohner des Displaced-Persons-Camps Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide machen sich an diesem Tag auf den Weg nach Israel. Sie alle sind Juden und haben den Holocaust überlebt. Die britische Armee stuft sie rechtlich als "Displaced Persons" (DP) ein, weil sie bei Kriegsende außerhalb ihres Herkunftslandes waren und nicht ohne Unterstützung dorthin zurückkönnen oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten. Die meisten warten seit 1945 darauf, Europa verlassen zu können.
"Der Begriff Displaced Person (DP) bezeichnet Personen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg kriegsbedingt außerhalb ihres Herkunftslandes aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land neu ansiedeln konnten." Definition des Jüdischen Museums Berlin
Getrennte Lager für polnisch-katholische und jüdische Bewohner
Bis zu ihrem Aufbruch ist das DP-Camp Bergen-Belsen für Tausende Holocaust-Überlebende ein Ort, an dem sie zusammen jüdische Kultur leben und die Immigration in Länder wie die USA, Kanada und Israel vorbereiten. Gegründet wird es von der britischen Armee, nachdem diese am 15. April 1945 das Konzentrationslager (KZ) Bergen-Belsen befreit und die Insassen auf das eineinhalb Kilometer entfernte Gelände der SS-Panzerkaserne bringt. Die meisten Überlebenden sind aus Osteuropa verschleppte KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene.
Da es im Lager gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen polnisch-katholischen und jüdischen Bewohnern gibt, richtet die Army auf dem Wehrmachtsgelände zwei Lager ein: ein polnisches und ein jüdisches DP-Camp. Ersteres wird bereits im September 1946 aufgelöst, weil die Bewohner in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
"She'erit Hapletah" - "letzte Überlebende" organisieren sich
Die Menschen im jüdischen Camp nennen sich selbst "She'erit Hapletah", was sich aus dem Hebräischen mit die "letzten Überlebenden" und "Rest der Geretteten" übersetzen lässt. Denn nach der Befreiung des KZ sterben noch Zehntausende Juden an den Folgen von Hunger, Folter und Krankheiten. "She'erit Hapletah" sind deshalb meist junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren. Im Lager wollen sie möglichst selbstbestimmt leben und wählen bereits nach wenigen Tagen eine eigene Leitung, die sich später "Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone" nennt. Die Mitglieder richten eine eigene Polizei, ein Gericht, Schulen, Zeitungen, das "Kazet-Theater" sowie andere kulturelle und soziale Institutionen ein. Gemeinsame Sprache der Polen, Ungarn und Rumänen ist Jiddisch. Da im Camp zionistische Strömungen dominieren, die einen jüdischen Staat auf palästinensischem Gebiet zum Ziel haben, werden Zeitung, Plakate und andere Schriftstücke in hebräischer Schrift gedruckt und geschrieben. Kinder lernen Hebräisch in der Schule.
Gemeinschaft durch Hochzeit und Kinder? Trügerisches "Glück"
Der Wunsch nach Gemeinschaft ist groß, die meisten Lagerbewohner sind die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Im Lager schließen sich viele Kibbuzim und Landsmannschaften an. Zudem bilden sich viele Paare, allein in ersten zwei Jahren gibt es rund 1.000 Hochzeiten. Bis zur Auflösung des Camps Anfang der 1950er-Jahre werden dort mehr als 1.000 Kinder geboren. Medienberichte mit Aufnahmen von jungen Müttern, die strahlend, Kinderwagen schieben, täuschten jedoch, sagt die Historikerin Katja Seybold von der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Hochzeiten seien eher durch Trauer über das Fehlen der Angehörigen gekennzeichnet und viele junge Mütter überfordert. Ein im Camp tätiger Arzt schildert später, dass die scheinbar gelöste, fröhliche Stimmung Fassade sei. Das Erlebte habe die Menschen so geprägt, dass es während normaler Gespräche zu plötzlichen Wutanfällen und Handgreiflichkeiten gekommen sei.
Briten wollen Einwanderung jüdischer Heimatloser nach Palästina verhindern
Zeitweise leben im jüdischen "DP-Camp" in der Heide 12.000 Menschen, was es zum größten jüdischen Lager der Nachkriegszeit macht. Ab 1946 kommen angesichts von Pogromen in Polen weitere jüdische Menschen ins Lager - anders als die bisherigen Bewohner haben sie die Shoa - wie der Holocaust im Hebräischen genannt wird - in Verstecken, als Partisanen oder in der Sowjetunion erlebt. Zwar leben die meisten Holocaust-Überlebenden in der US-Besatzungszone, aber jüdische DP-Camps wie die in Bayern sind mit bis zu 5.000 Bewohnern erheblich kleiner. Darüber hinaus ermöglichen die Vereinigten Staaten, den DP früher in andere Länder einzuwandern - besonders nach Palästina.
Die Briten verfolgen in der Region jedoch eigene Interessen: Palästina steht unter ihrem Mandat - und bei weiteren jüdischen Einwanderern fürchten sie um ihren Einfluss und weitere Konflikte mit den Arabern. Das zeigt sich etwa am Beispiel des illegalen Einwandererschiffs "Exodus", auf dem auch jüdische DP aus Bergen-Belsen sind. Als es abgefangen wird, werden die 4.500 Menschen an Bord in ein Lager bei Lübeck gebracht. Die Briten werden für ihren Umgang mit Holocaust-Überlebenden international massiv kritisiert.
Proteste, Hebräisch-Kurse und Ausbildung - alles für die Immigration
Im Lager bereiten die Menschen trotzdem weiter ihre Einwanderung nach Palästina vor. Zum einen fordern die Bewohner die Briten etwa bei Demonstrationen immer wieder dazu auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben und ihnen endlich die Immigration zu ermöglichen. Zudem machen sie Hebräisch-Kurse und lernen mit Unterstützung der jüdischen Organization for Rehabiltitation and Training (ORT) handwerkliche und teils auch landwirtschaftliche Berufe, die ihnen später beim Aufbau einer Existenz helfen sollen. Zu den Angeboten gehören unter anderem eine Schneiderwerkstatt und Ausbildungen zum Elektriker, Schlosser und Mechaniker. Während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten konnten die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mitunter jahrelang ihren Berufen nicht nachgehen oder hatten gar keine Chance, einen zu erlernen.
Kanada und USA erhöhen Kontingente, auch Israel wird realistischer
1948 gibt es schließlich eine Perspektive für die meisten jüdischen DP. Die USA und Kanada erweitern ihre Kontingente. Bis dahin ist die Immigration für sie schwierig, denn die meisten Länder wollen in erster Linie junge, fitte, alleinstehende, gut ausgebildete Arbeitskräfte. Die Holocaust-Überlebenden leiden jedoch gesundheitlich an den Folgen der Verfolgung und sind sozial entwurzelt. Die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 bietet grundsätzlich allen Juden die Chance, legal dort einzuwandern. Ende des Jahres leben noch rund 7.000 DP im Camp - die meisten entscheiden sich für Israel als neue Heimat. Und das, obwohl das Land von Anfang an angegriffen wird und die Männer zum Militärdienst eingezogen werden. Es gibt aber auch Paare mit Kindern, die sich aus genau diesem Grund gegen Israel als neue Heimat entscheiden.
Waggons mit Israel-Flaggen stehen an der Rampe des früheren KZ
Die am 28. Februar gestartete Reise der knapp 600 jüdischen DP aus dem Camp Bergen-Belsen ist der Beginn einer großen Migrationswelle aus der britischen Zone. Die amerikanische Zone haben zu diesem Zeitpunkt bereits 30.000 Holocaust-Überlebende verlassen, weitere 35.000 stehen bereit. Die Lager-Bewohner aus der Heide führt der Weg dabei an den Ort, über den einige während des NS-Zeit gekommen waren: den Bahnhof des früheren KZ Bergen-Belsen. An diesem Tag steht an der Verladerampe "ein endloser Zug: neun Personenwagen, ein Krankenwagen, ein Packwagen und ein Heizwagen und vier Gepäckwagen", schreibt die "Hannoversche Presse". Alle Wagen seien mit großen blau-weißen Flaggen geschmückt. "Krampfhaft hielten die Auswanderer dieses kleine Ticket in den Händen, auf denen als Endziel Haifa zu lesen steht. Pünktlich um 16.00 Uhr setzte sich der lange Zug in Bewegung."
Jehoshua Baruchi, der die jüdische Immigration nach Palästina von der britischen Zone aus organisiert, sagt der "Zeitung" seinerzeit: "Ein jüdisches Problem im Staatssinne wird es jedenfalls nach Abschluss dieser Aktion in Deutschland nicht mehr geben." 1950 wird das DP-Camp Bergen-Belsen aufgelöst.