Vom Feind zum Freund: Die Briten im Norden
Im Mai 1945 besetzen die Briten Norddeutschland. Sie bringen zum Ende des Zweiten Weltkriegs Nissenhütten, Popmusik und demokratische Strukturen. Viele bleiben - als Partner.
"Es ist unsere vorrangige Aufgabe, für Nahrung, Unterkunft und Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen", erklärt der britische Oberbefehlshaber Bernard Law Montgomery im Juni 1945. Daneben stehen die Entnazifizierung und Demokratisierung der Deutschen ganz oben auf der Agenda der britischen Besatzer, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Kommando in den heutigen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen übernehmen.
Das britische Militär richtet sich im Norden ein
Gleich zu Beginn ihres Einmarsches in Norddeutschland werden die britischen Soldaten mit den Gräueltaten des Nazi-Regimes konfrontiert: Am 15. April 1945 treffen sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen auf bis aufs Skelett abgemagerte Menschen und Massengräber. Kampflos nehmen die Briten am 3. Mai Hamburg ein. Oberste Priorität hat zunächst die Sicherheit in der britischen Zone. Die Truppen müssen untergebracht, die Bevölkerung muss entwaffnet und bisherige Instanzen müssen entmachtet und ersetzt werden.
"Here is radio Hamburg, a station oft the allied military government", können die Hamburger am Abend des 4. Mai 1945 hören. Die neuen Machthaber kontrollieren alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Im Vergleich zu den übrigen Besatzungszonen kommt es zu relativ wenigen Übergriffen auf die Deutschen. Dennoch bleiben Vergewaltigungen und Plünderungen vor allem in den ersten Monaten der Besatzungszeit nicht aus. Dies belegen Anzeigen bei der Hamburger Schutzpolizei, die damals unter britischer Kontrolle ihre Aufgaben ausübt.
"No Germans" - Fraternisieren verboten
Kontakte zwischen Briten und Deutschen gibt es zunächst fast ausschließlich auf offizieller Ebene. Es gilt das Fraternisierungsverbot. Briten dürfen privat nicht mit Deutschen sprechen, keine Deutsche heiraten, keine Geschenke verteilen oder Einladungen von Deutschen annehmen. Stattdessen errichtet die Militärregierung eine Parallelwelt für britische Soldaten und Zivilisten mit eigener Versorgung, Schulen, Unterhaltungsprogramm und Kirchen. Außerdem beschlagnahmt sie Wohnungen. Einquartierung wird diese Maßnahme genannt, die wegen der ohnehin angespannten Wohnungssituation auf wenig Verständnis trifft.
In den Hamburger S-Bahnen benutzen die Briten eigens für sie ausgewiesene Waggons, sie betreiben eigene Ladengeschäfte, Kinos und Clubs. Schilder mit der Aufschrift "Keep out", "No Germans", "Off limits" beschränken offensiv den Zugang für die deutsche Bevölkerung. Allerdings benötigt die Militärregierung deutsche Gehilfen und Amtsträger. Diese müssen auf den sogenannten Weißen Listen stehen, auf denen Gegner der Nazis beziehungsweise Unbeteiligte verzeichnet sind.
Entspannung in den Beziehungen ab Sommer 1945
Ab Sommer 1945 lockern die Befehlshaber allmählich die Regeln. Gespräche zwischen Besatzern und Besetzten sind nun erlaubt, Beziehungen zwischen britischen Soldaten und deutschen Frauen stehen nicht mehr unter Strafe. Besuche in deutschen Wohnungen hingegen sind noch immer verboten. Unter den wachsamen Augen der Besatzer werden politische Gruppierungen und Gewerkschaften allmählich wieder aktiv.
Massenmedien als Instrumente der Demokratisierung
Der Nordwestdeutsche Rundfunk, kurz NWDR, wird am 22. September 1945 als Nachfolger von Radio Hamburg in der Hansestadt gegründet. Unter der Leitung des Briten Hugh Carleton Greene sollen die Deutschen nach dem Vorbild der BBC (British Broadcasting Corporation) unabhängige Berichterstattung erlernen. Es ist der Beginn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Westdeutschland. Das Programm dient vornehmlich, wie die anfänglichen Heeresgruppenblätter und Radio Hamburg, der Information und demokratischen Erziehung der Bevölkerung. Zudem hält über den NWDR sowie den britischen Armeeradiosender BFN (British Forces Network) britische und US-amerikanische Popmusik Einzug. Der britische Radiomoderator Chris Howland bringt mit Witz und Charme neuen Schwung in deutsche Stuben.
Vorgabe: Deutliche Trennung von Nachricht und Meinung
Auch im Printbereich liegt das Informationsmonopol zunächst bei den Besatzern. Am 8. Januar 1946 erscheinen die "Braunschweiger Zeitung" und am 21. Februar 1946 "Die Zeit" als erste deutsche Zeitungen mit britischer Lizenz. "Die Welt" kommt ab April 1946 auf den Markt. Ein Problem ist die Schulung deutscher Journalisten. Die Besatzer fordern eine neutrale Berichterstattung, bei der Nachricht und Meinung klar getrennt sind. Einer der herausragenden Rundfunkmacher der ersten Stunde ist Peter von Zahn. Zunächst bei Radio Hamburg, dann beim NWDR regt er die Hörer mit seinen Reportagen und Kommentaren zum Nachdenken an.
Wohnungsnot, Kohlekrise und Jahrhundertwinter
Die meisten Menschen haben allerdings andere Probleme. In ganz Norddeutschland müssen Ausgebombte und heranströmende Flüchtlinge untergebracht werden. Allein in Hamburg ist mehr als die Hälfte des Wohnraums zerstört. Vor allem in Schleswig-Holstein suchen Ostflüchtlinge Zuflucht. Hier leben 1946 etwa 2,7 Millionen Menschen - 63 Prozent mehr als noch 1939. Um dem riesigen Bedarf zumindest ansatzweise gerecht zu werden, lassen die Besatzer Behelfsunterkünfte wie die Nissenhütten bauen. Diese halbrunden Wellblechhütten dienten bereits in den britischen Kolonien als Unterkünfte. Zudem werden Wohnungen mehrfach belegt.
Im harten Hungerwinter 1946/47 stehen weder genügend Nahrungsmittel noch ausreichend Kohle zum Heizen zur Verfügung. Ohne "Kohleklau" von den offenen Zügen oder das "Hamstern" auf dem Land kommen die Menschen kaum über die Runden. Zu Fuß, mit dem Rad oder in überfüllten Zügen begeben sie sich aufs Land und versuchen dort, Wertgegenstände gegen Lebensmittel zu tauschen. Viele Deutsche geben den Briten die Schuld an der Misere, das Verhältnis zwischen Besetzten und Besatzern verschlechtert sich. Allerdings führt die Not auch dazu, dass Deutsche und Briten sich gegenseitig helfen und gemeinsam handeln.
"Besatzungskinder" und deutsch-britische Ehen
Den Briten ist von Beginn an klar, dass sich Kontakte zwischen ihren Soldaten und deutschen Frauen nicht vermeiden lassen werden. Neben den Begegnungen in offiziellen Bordellen kommt es vielfach zur so genannten Hungerprostitution. Angesichts ihrer desolaten Lage sieht manche Deutsche in der Prostitution einen Weg, ihre Versorgung zu verbessern. Daneben entstehen Liebesbeziehungen zu Frauen, die beispielsweise in Kneipen arbeiten. Offiziell werden zwischen 1946 und 1950 in Hamburg 760 uneheliche Kinder einer deutschen Mutter und eines britischen Vaters geboren. Diese "Besatzungskinder" und ihre Mütter stoßen häufig auf Ablehnung. 15 Monate nach Kriegsende erlaubt die britische Regierung ihren Soldaten schließlich, deutsche Frauen zu heiraten.
Annäherung von Briten und Deutschen in Clubs und Zirkeln
Für eine Annäherung zwischen Briten und Deutschen sorgen auch die "Anglo-German Discussion Groups", die ab 1947 vor allem in Hamburg gegründet werden. Stadtkommandant Henry Vaughan Berry will mit einem intensiveren Austausch vor allem die oberen fünf Prozent der deutschen Bevölkerung erreichen. Diese soll, demokratisiert und pazifiziert, den Rest der Deutschen beeinflussen. So treffen sich Briten und Deutsche im "Deutschen Presseclub", im "Anglo-German Music Circle", im "Anglo-German Swing Club" oder im "Club der jungen Journalisten". Zudem entstehen Clubs, die speziell Frauen oder Jugendliche ansprechen. Außerdem fördert die Militärregierung Spiele und Feiern deutscher und britischer Kinder. Ab 1946 veranstalten britische Soldaten jährliche Weihnachtsfeiern für Hamburger Kinder.
Neue Aufgaben im Kalten Krieg
Die offizielle Besatzungszeit endet mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949. Viele Zuständigkeiten verbleiben jedoch bis zur Erlangung der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik am 5. Mai 1955 zunächst bei den Siegermächten. Die Besatzer ziehen sich aber bereits in der Zeit davor aus einigen Bereichen zurück: Ab Ende 1948 geben die Briten vermehrt beschlagnahmte Wohnungen, Hotels und Unterhaltungslokale wieder frei. Im Mai 1951 werden die Sonderabteile für Briten in den Hamburger S-Bahnen abgeschafft, im Juni 1951 erfolgt in der Hansestadt die Rückgabe des Passage-Kinos, im Januar 1952 die des Hotels Vier Jahreszeiten.
Aus Besatzern werden Partner
Auch nach 1955 bleiben die Briten - wenn auch in geringerer Zahl. Grund dafür ist der Kalte Krieg, der nun die Politik beherrscht. Aus Besatzern werden Partner: Die "Tommys" nehmen nun als Teil der NATO-Truppen ihre Verteidigungs- und Abschreckungsaufgaben gegen den Warschauer Pakt wahr. 102.000 britische Soldaten absolvieren noch 1954 ihren Dienst in Deutschland, im Norden vor allem in Niedersachsen.
Das gefällt nicht allen Bundesbürgern. Pazifistische Bürgerinitiativen kritisieren bereits in den 1950er-Jahren die Präsenz des britischen Militärs sowie die Entstehung der Bundeswehr. Die Mehrheit der Bevölkerung aber akzeptiert die Anwesenheit der ehemaligen Besatzer. Das Verhältnis, einst geprägt von Feindbildern und Fraternisierungsverbot, normalisiert sich im Laufe der Jahrzehnte. Briten und Deutsche begegnen einander freundschaftlich. "Man redete nicht mehr von Besatzung, sondern Gast und Gastgeber", erinnerte sich später sich der Brite Clifford Middleton, der von 1983 bis 1995 als Deutschlehrer an einer britischen Schule in Bergen unterrichtete.
2015 verabschieden sich die Briten aus dem Norden
Nach dem Ende des Kalten Krieges wird die Rheinarmee (BAOR, British Army of the Rhine) am 31. März 1994 offiziell aufgelöst. Teile bilden nun die Britisch Forces Germany (BFG), die unter anderem Truppenteile für die KFOR (Kosovo Force), ISAF (International Security Assistance Force) und ähnliche NATO-Einsätze abstellen. 2010 gibt die britische Regierung bekannt, dass sie bis 2020 alle Streitkräfte des Vereinigten Königreichs aus Deutschland abziehen will, knapp drei Jahre später wird der Termin auf 2015 vorgezogen. Im Juli 2012 verlassen die Briten bereits das niedersächsische Celle, im Juni 2014 Hameln. Im Mai 2015 folgt der Abzug aus Bad Fallingbostel - für die Heidestadt ein großes Problem: Sie verliert ein Drittel ihrer Einwohner, rund 1.000 Wohnungen stehen zunächst leer. Kommunalpolitiker befürchten Beeinträchtigungen für die lokale Wirtschaft und legen Konzepte auf, um den befürchteten wirtschaftlichen Schäden zu begegnen. Einige Briten bleiben allerdings mit ihren Familien im Land - sie sind über die Jahre heimisch geworden und bauen sich eine neue berufliche Existenz auf.