Als Studenten und APO gegen "Muff von 1.000 Jahren" kämpften
Die Studentenbewegung protestiert ab Mitte der 60er-Jahre gegen die Verhältnisse an den Universitäten, die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg - und will die ganze Gesellschaft verändern. Benno Ohnesorgs Tod markiert 1967 einen Wendepunkt.
"Die Vorstellung, wir müssen anders leben." Daran erinnert sich Eva Quistorp, wenn sie zurückdenkt an die Zeit der Studentenbewegung. Es sei eben um mehr gegangen als nur darum, andere Politiker zu wählen. Es ging um alles: Kapitalismus, Imperialismus, die Last der Geschichte - aber auch um das Lebensgefühl einer jungen Generation, die sich Weite und Offenheit wünschte statt verkrusteter gesellschaftlicher Strukturen.
Notstandsgesetze rufen die APO auf den Plan
In fast allen westlichen Industrieländern gab es in den 60er-Jahren Protestbewegungen und Auseinandersetzungen zwischen traditionsorientierten und modern denkenden Teilen der Gesellschaft - zugespitzt: zwischen Alt und Jung. In der Bundesrepublik regierte seit 1966 die Große Koalition aus Union und SPD, Opposition schien nur noch außerhalb des Parlaments möglich, in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Sie bildete sich in der Kampagne gegen die geplanten Notstandsgesetze, von denen nicht nur die Studierenden fürchteten, sie könnten zu einem neuen "Ermächtigungsgesetz" werden wie einst auf dem Weg in den Nationalsozialismus.
Von Rebellion gegen das NS-Erbe bis Solidarität mit Vietnam
Aufgerüttelt durch die Auschwitzprozesse und Berichte über die NS-Vergangenheit nicht weniger Funktionsträger der Bundesrepublik, wurde die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ein wichtiges Thema der deutschen Studierenden. Ihr Spruch "Unter den Talaren - Muff von 1.000 Jahren" gegen die verknöcherten autoritären Verhältnisse an den Universitäten war auch eine Anspielung auf Hitlers Wahn vom "Tausendjährigen Reich". Der Anspruch, die Verhältnisse im eigenen Land zu verändern, mischte sich dann mit der Solidarisierung mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Protesten gegen den Vietnamkrieg.
"Was heute das Handy ist, waren für uns die Teach-ins"
Führend in der deutschen Studentenbewegung war der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Eva Quistorp nahm an vielen SDS-Veranstaltungen teil, trat ihm aber nicht bei. "Das, fand ich, passte nicht zu einer antiautoritären Bewegung", als die sie die Studentenbewegung sah.
Besser gefielen ihr die neuen Aktionsformen, die neben den Demonstrationen entwickelt wurden, wie Sit-ins oder Teach-ins. "Was heute für viele ihr Handy ist mit Webseiten und Apps, das waren für uns die Teach-Ins." Da bekam man Informationen. Es waren aber auch einfach Treffpunkte, wo man neue Leute kennenlernte, Raubdrucke tauschte oder sich Liebschaften anbahnten.
Frankfurter Schule liefert den intellektuellen Überbau
Der Begriff "antiautoritär", unter den sich die Studentenbewegung stellte, war intellektuell vorgedacht in den Schriften der Frankfurter Schule, von Philosophen wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse. Aktionsformen mit Happening-Charakter wurden angestoßen von Gruppen wie der "Situationistischen Internationale" oder der "Subversiven Aktion", deren Mitglieder sich der APO anschlossen. Dazu gehörte etwa Dieter Kunzelmann, der spätere Mitbegründer der "Kommune 1" in Berlin: einer Wohngemeinschaft mit politischem Anspruch, die mit den von ihr als kleinbürgerlich und spießig empfundenen Lebensformen brechen wollte. Aus der "Subversiven Aktion" kam auch Rudi Dutschke, der im Januar 1965 dem SDS beitrat und zu einem der führenden Köpfe der Studentenbewegung wurde.
"Rudi Dutschke verkörperte rebellischen Aufbruchsgeist"
Eva Quistorp kannte Rudi Dutsche und seine Frau Gretchen von der Uni und mochte die beiden. "Ich habe ihn als wahnsinnig integren, rücksichtsvollen Mann erlebt", sagt sie. Dutschke ist heute für viele das Gesicht und die Stimme der Studentenbewegung - auch wenn damals viel mehr Leute wichtige Rollen spielten. Aber er hatte die intellektuellen Fähigkeiten und die rhetorische Begabung, um Leute in seinen Bann zu ziehen. "Er hat so etwas wie den rebellischen Aufbruchsgeist dieser Zeit verkörpert", sagt Eva Quistorp. Sie erinnert sich an eine faszinierende Persönlichkeit. In den konservativen Zeitungen dagegen, allen voran in der "Bild"-Zeitung und anderen Blättern des Springer-Verlags, wurde ein dämonisches Bild von Dutschke gezeichnet, das ihn für viele zu einer Hassfigur machte - und auch dazu geführt hat, dass im April 1968 ein Attentat auf ihn verübt wurde.
Die Studenten vertraten ihre Forderung nach Veränderung mit rhetorischer Schärfe und provokantem Auftreten. Umgekehrt verteufelten konservative Teile der Gesellschaft die jungen Rebellen. "'Man sollte euch vergasen', das habe ich wirklich gehört", erinnert sich Quistorp. Trotzdem blieben die Proteste zivil. Bis zum 2. Juni 1967 - dem Tag, an dem der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde.
Tod von Benno Ohnesorg: "Damit sind wir alle getroffen"
Bei Demonstrationen gegen den Schah-Besuch in Berlin kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Benno Ohnesorg, der an diesem Tag zum ersten Mal an einer Kundgebung teilnahm, hörte aus einem Hinterhof Schreie und wollte nachsehen, ob er helfen kann. Doch auch auf ihn wurde dort eingeprügelt - und dann traf ihn ein Schuss aus etwa eineinhalb Metern in den Hinterkopf. Schütze: der Polizist Karl-Heinz Kurras. "Als wäre das ein Bruder gewesen" erinnert sich Eva Quistorp an das Gefühl, als sie von Ohnesorgs Tod erfuhr. "Sie haben einen von uns umgebracht. Damit sind wir alle getroffen."
Der Tod Benno Ohnesorgs wurde zu einem Wendepunkt der Studentenbewegung. Er mobilisierte noch einmal, führte aber auch zu einer Radikalisierung. Die Demonstrationen wurden größer, lauter - und dann kam die Frage: Gewalt oder nicht?