Die geistigen Väter der 68er
Je überzeugter die rebellierenden Studierenden von den leitenden Theorien unter der Chiffre 68 waren, desto ungeduldiger versuchten sie, diese in die Praxis umzusetzen. Die maßgeblichen geistigen Väter der Revolte waren deutsche Professoren.
Schon seit den 1930er-Jahren hatten sich Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und andere im Frankfurter Institut für Sozialforschung die Aufgabe gestellt, den Marxismus neu zu denken. Wichtiger als die Ökonomie war dabei die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Für Herbert Marcuse machte der Kapitalismus der Überflussgesellschaft die Menschen so unfrei wie eh und je - aber nicht mit Zwang, sondern viel raffinierter - durch Verführung. Er schrieb: "Die Einordnung der Tiefenpsychologie in den Marxismus ist kein Rückfall in ideologische Interpretation, denn der Spätkapitalismus hat die Relation Basis-Überbau verändert. Und das meint nicht Ende der Ideologie, sondern im Gegenteil: Institutionalisierung im wirklichen Sinne: Verkörperung der Ideologie im alltäglichen Verhalten."
Marcuses Hauptthese, entfaltet in seinem Buch "Der eindimensionale Mensch", lautete, der zeitgenössische Kapitalismus manipuliere die Menschen bis hinein in deren geheimste Bedürfnisse und Wünsche. Gleichzeitig forschte Marcuse nach internationalen Befreiungsbewegungen, die die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt beerben könnten. Dies machte ihn für einige Jahre zur Ikone gerade der deutschen Protestbewegung.
Adorno wäre nie auf Demonstrationen mitmarschiert
Ein weiterer geistiger Vater der Studierenden war Theodor Adorno. Auf Demonstrationen mitzumarschieren wie Marcuse, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Seine Welt war die Universität, auch wenn er die Gesellschaft auf ganz ähnliche Weise kritisierte, wie sein mehr der Praxis zugewandter Kollege: "Verhindert die Einrichtung der Gesellschaft, automatisch oder planvoll, durch Kultur- und Bewußtseinsindustrie und durch Meinungsmonopole, die einfachste Kenntnis und Erfahrung der bedrohlichsten Vorgänge und der wesentlichen kritischen Ideen und Theoreme; lähmt sie, weit darüber hinaus, die bloße Fähigkeit, die Welt konkret anders sich vorzustellen, als sie überwältigend jenen erscheint, aus denen sie besteht, so wird der fixierte und manipulierte Geisteszustand ebenso zur realen Gewalt, der von Repression, wie einmal deren Gegenteil, der freie Geist, diese beseitigen wollte", schrieb Adorno.
Adorno weist Vorwürfe als "geistiger Brandstifter" zurück
Gerade Adorno, der für viele seiner Studierenden eine Vaterfigur war, löste Erwartungen aus, die er nicht zu erfüllen bereit war. Als Aktivisten seine Vorlesung sprengten, reagierte er verstört. Die Besetzung seines Instituts beendete schließlich die Polizei. Dennoch verband ihn mit vielen Studierenden ein geradezu inniges Verhältnis, sie "seien wie die Kinder", so schrieb er einmal. Angriffe auf ihn und seine Kollegen als "geistige Brandstifter" wies Adorno empört zurück: "Ich finde, dass diese Tatsache, dass man uns moralisch vorwirft: 'Ihr habt diese Ideen in den Köpfen gehabt und die Studenten, die haben sie dann verwirklicht. Und Ihr Schweine, Ihr identifiziert euch dann nicht einmal damit!' - dass das doch im Grunde dem Topos entspricht, dass der Gedanke, der möglicherweise unangenehme Konsequenzen hat, nicht gedacht werden kann."
Das alles erscheint heute sehr weit entfernt. Und doch ist es faszinierend: Dass Gedanken und Argumente eine solche Kraft hatten, die Gesellschaft zu verändern. Und dass viele Aktivisten von damals die Universität mit der Welt verwechseln konnten - und dabei glaubten, die Welt funktioniere wie die Universität, einfach mit der Kraft des besseren Arguments.