"Muff unter den Talaren": Vom Protestbanner zur Studentenbewegung
Am 9. November 1967 entrollen zwei Jura-Studenten bei einer Feierstunde der Universität Hamburg einen Spruch, der zur Kampfparole der Studentenbewegung wird: "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren".
Bis auf den letzten Platz besetzt ist das Hamburger Auditorium Maximum an diesem Donnerstag, dem Tag der feierlichen Amtsübergabe an den neuen Rektor am 9. November 1967. Im Publikum sitzen Politiker aus Senat und Bürgerschaft, Professoren und auch viele Studenten - gepflegt gekleidet, wie es Sitte ist. Selbst die Presse ist zugegen. Ein Streichquartett spielt, man wartet auf die Festredner.
Plötzlich ein Raunen, alle Köpfe drehen sich nach links: Die Treppe hinab schreiten würdevoll der ehemalige Rektor, Kinderheilkundler Prof. Karl-Heinz Schäfer, und sein Amtsnachfolger, der Volkswirt Prof. Werner Ehrlicher, beide im traditionellen Talar - einem weit geschnittenen Obergewand, an dessen Farbe ersichtlich ist, welchem Fachbereich der Träger angehört. Doch was ist das? Vor sie sind zwei artig gekämmte junge Anzugträger gesprungen, die ein Transparent entrollen. Darauf in Lettern aus Klebeband ein Spruch, der viele Besucher entgeistert erstarren lässt: "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren".
Die Hamburger Provokation trifft den Nerv
Dieser provokante Slogan, der bewusst auf die NS-Zeit anspielt, die das "Tausendjährige Reich" ausgerufen hatte, wird zur berühmtesten Kampfparole der Studentenbewegung - und scheint manchen Professor nicht kalt zu lassen: "Sie gehören alle ins Konzentrationslager!", ruft der damalige Ordinarius für Islamkunde, Bertold Spuler, den beiden Jurastudenten Gert Hinnerk Behlmer (damals 24) und Detlev Albers (23) noch zu, ehe Saalordner sie hinausdrängen können. Doch zu diesem Zeitpunkt ist das plakative Foto bereits im Kasten. Im Nu verbreitet sich die Parole an den Unis der Republik.
Unter der Oberfläche brodelt es
"Mit dem Transparent wollten wir die Hochschulen darauf stoßen, dass sie sich bislang vor der Aufarbeitung ihrer Rolle im 'Dritten Reich' gedrückt hatten", erinnert sich Detlev Albers 2006 in einem Interview mit dem "Spiegel" an die spektakuläre Aktion. An den Fakultäten gärt es damals schon seit Langem. Viele Studenten sind unzufrieden mit den Studienbedingungen. Die Strukturen an den Universitäten sind oft verkrustet, es herrscht ein autoritärer, hierarchischer Stil, die Ausstattung ist veraltet. Zudem kritisieren viele Studenten die generellen gesellschaftlichen und politischen Zustände in der Bundesrepublik.
"Wir kämpften für die Umwälzung der Gesellschaft"
Die Gründe für diese Verdrossenheit sind vielschichtig: So reibt sich die erste Generation der Nachkriegsgeborenen vor allem an der fehlenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen und der konservativen Restauration der Adenauer-Ära sowie an den als überholt empfundenen Moralvorstellungen. "Es war die Zeit der außerparlamentarischen Opposition. Wir kämpften für nichts weniger als eine Umwälzung der gesamten Gesellschaft", so Detlev Albers.
In Diskussionsrunden über die gesellschaftskritischen Ansätze der Frankfurter Schule - Adorno, Horkheimer und Co. - reden Studenten sich die Köpfe heiß und schwelgen in Utopien vom "neuen Menschen". Antiautoritäre Ideen kommen stark in Mode. Unter den Sprösslingen der Wirtschaftswunder-Zeit findet auch der Antikapitalismus viele Anhänger. Die neuen geistigen Helden heißen Mao, Ho-Chi Minh und Che Guevara.
Die APO formiert sich
Nach Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966 hatten sich die Unruhen an den Hochschulen verstärkt, der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) setzt sich an die Spitze der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition (APO). In Uni-Städten formieren sich immer häufiger Protestmärsche. Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bringt das Fass zum Überlaufen. Der Student wird bei einer Demonstration gegen Schah Reza Pahlavis Besuch in West-Berlin von einem Polizisten erschossen - angeblich aus Notwehr. Bundesweit gehen daraufhin Studenten auf die Straße. In Hannover, Ohnesorgs Heimatstadt, nehmen eine Woche später rund 7.000 Menschen an einem Schweigemarsch teil - es ist eine der größten studentischen Kundgebungen der Republik bis zu diesem Zeitpunkt.
Der Protest radikalisiert sich, die Studentenbewegung zerfällt
Wenig später brennt in Berlin erstmals ein Fuhrpark der Springer AG. Die Berichterstattung der "Bild"-Zeitung, das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968, die Notstandsgesetzgebung im Mai 1968 und der Vietnamkrieg fachen neue Protestwellen an, die immer häufiger in Straßenschlachten enden. Der studentische Protest radikalisiert sich.
Die Gewaltexzesse entwickeln eine unkontrollierbare Eigendynamik, die letztlich zur Zersplitterung der Studentenbewegung beiträgt. Aus dem militanten Teil der außerparlamentarischen Opposition geht die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF) hervor. Die Proteste auf der Straße dagegen flauen ab.
In Bremen entsteht eine Reformhochschule
Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer, die beiden Spruchband-Träger, müssen sich für ihre Aktion in einem universitären Disziplinarverfahren verantworten. Auch für Bertold Spuler, der die Studenten während ihrer Aktion beschimpfte, hat sein Fehlverhalten ein Nachspiel: Er wird zeitweilig suspendiert und seine NS-Vergangenheit wird publik.
Albers und Behlmer machen später ihr Examen und engagieren sich bis 1970 als studentische Beauftragte in der Gründungskommission der Universität Bremen, die als Reformhochschule antritt. Detlev Albers lehrt dort später als Professor für Politikwissenschaft. Er stirbt 2008 an einem Schlaganfall. Gert Hinnerk Behlmer wird Verwaltungsjurist und zwischenzeitlich Staatsrat in Hamburg. Das berühmte Transparent liegt heute im Hamburger Staatsarchiv.