1979: "Cap Anamur" startet Hilfsaktion vor Vietnam
Eine Gruppe von deutschen Idealisten beginnt am 13. August 1979 an Bord des gemieteten Frachters "Cap Anamur" ihre erste Hilfsaktion, um in Seenot geratene Flüchtlinge vor Vietnam aufzunehmen. Bis 1987 bewahrt die Crew 11.000 Boatpeople vor dem Tod.
Dicht gedrängt flüchten die Menschen auf kleinen Holzbooten über das offene Meer. Schon nach wenigen Tagen gibt es nichts mehr zu essen und zu trinken. Piraten überfallen die überfüllten Boote und bringen die Flüchtlinge um ihr letztes Hab und Gut.
Ende der 1970er-Jahre gehört Vietnam zu den ärmsten Ländern der Welt. Eltern sehen in den Wirren nach dem Vietnamkrieg (1955 bis1975) keine Perspektiven für ihre Kinder. Junge Männer fürchten den sicheren Tod an der Front im nächsten mörderischen Krieg, der zwischen Vietnam und Kambodscha ausgebrochen ist. Auch haben viele Angst, wegen ihres christlichen Glaubens verhaftet zu werden. Hunderttausende Vietnamesen fliehen, viele von ihnen über das Chinesische Meer. Mehr als 200.000 Vietnamesen - Boatpeople genannt - ertrinken auf ihrer Reise, die sie mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft gewagt hatten.
"Cap Anamur" rettet Flüchtlinge aus "Nussschalen"
Die Berichte und Bilder davon rütteln die Menschen im Westen zunehmend auf. Einer von denen, die dringend etwas tun möchten, ist der Journalist Rupert Neudeck. Am 1. August 1979 heben er, seine Frau Christel und einige Freunde - darunter Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll - die Kölner Hilfsorganisation Cap Anamur aus der Taufe. Schnell bildet sich das Komitee "Ein Schiff für Vietnam", das die Rettung der Boatpeople organisieren will.
Acht Tage später läuft das von der Hamburger Reederei Hans Voss gemietete Schiff MS "Cap Anamur" aus dem Hafen der japanischen Metropole Kobe aus, um in Seenot geratene Flüchtlinge vor der vietnamesischen Küste aufzunehmen. Am 13. August nimmt die "Cap Anamur" die Hilfsaktion im Südchinesischen Meer auf. Dieser Tag ist die eigentliche Geburtsstunde der Organisation. Etwa zweieinhalb Monate später rettet die Crew die ersten 170 Menschen, die in "Nussschalen", wie die kleinen offenen Boote von vielen genannt werden, auf hoher See treiben.
Mit dem Kran ans rettende Deck - Platz für 600 Menschen
"Sie haben sich in Fischer- und Flussbooten wie Lemminge in die See geworfen", erinnert sich Neudeck bei einer Gedenkfeier Jahrzehnte später an die erste Rettungsaktion. "Vier Tage und vier Nächte waren sie unterwegs, wie in einer Sardinendose eingeklemmt." Viele Flüchtlinge finden die Retter auch später in meist schlechtem körperlichen Zustand vor: Oft sind ihre Muskeln derart erschlafft, dass sie eine Strickleiter nicht hochklettern können. Die Besatzung der "Cap Anamur" hievt sie deshalb mit einem Kran, an dem eine Plattform angebracht ist, auf das rettende Deck. Auf dem umgebauten Frachter kommen bis zu 600 Menschen unter, die Schwimmwesten dienen den Geretteten als Kopfkissen.
Schwimmendes Lazarett: Ärzte versorgen unter Deck
Unter Deck ist eine große Küche eingerichtet, ebenso ein kleines Hospital, in dem mehrere Ärzte und Krankenschwestern die Menschen versorgen. Auf der Fahrt nach Europa bringen die Mediziner den Flüchtlingen die ersten Worte auf Deutsch bei. Auch Kinder werden auf hoher See geboren.
Heftig umstritten: Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland
Immer öfter stößt der Rettungsfrachter auf dem Südchinesischen Meer auf überladene Boote, die hilflos auf dem Wasser treiben - Wetter, Stürmen und Piraten schutzlos ausgeliefert. Parallel zu den Rettungsaktionen setzt sich Neudeck politisch dafür ein, dass die geretteten Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden - was ihm nicht nur Anerkennung, sondern auch viel Kritik einbringt. Diese Art von Engagement könne doch missverstanden werden und noch mehr Vietnamesen zur Flucht motivieren, heißt es.
Nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen kommen die ersten Boatpeople schließlich im Sommer 1980 über Singapur nach Deutschland - die Aufnahme beschränkt sich allerdings auf diejenigen, die direkt von der "Cap Anamur" aufgegriffen werden.
"Cap Anamur" rettet rund 11.000 Boatpeople
Im Lauf der Jahre sind drei Schiffe unter dem Namen "Cap Anamur" unterwegs. Insgesamt rund 11.000 vietnamesische Flüchtlinge können "Cap Anamur" I, II und III zwischen 1979 und 1987 aus Seenot retten. Weitere 35.000 Menschen werden nach Angaben des Vereins in dieser Zeit an Bord zusätzlich medizinisch versorgt.
Finanziert werden die Einsätze mit Spendengeldern - und die deutsche Bevölkerung erweist sich als extrem hilfsbereit: 20 Millionen D-Mark kommen über die Jahre zusammen, die den Betrieb der Schiffe und die Versorgung der Flüchtlinge sichern.
Verein inzwischen weltweit im Einsatz
Was einst unter dem Namen "Ein Schiff für Vietnam" als einmalige Rettungsaktion begann, ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen. Inzwischen agiert die Rettungsinitiative unter dem Namen Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e. V. weltweit: In rund 60 Ländern sind die Teams mit etwa 1.700 Mitarbeitern bislang im Einsatz gewesen, unter anderem in Krisenregionen des Nahen Ostens, Nordkorea sowie Zentral- und Westafrika, aber auch in Europa. Neben Rettungsaktionen leisten die Helfer vor allem medizinische Unterstützung.
Seenotrettung von Flüchtlingen aktueller denn je
Noch heute finanziert sich der unabhängige Verein allein über Spenden. Doch nicht nur das Engagement ist geblieben. Auch heute sind weltweit Menschen auf der Flucht - und geraten bei dieser unter prekären Bedingungen in Seenot. Und auch heute gibt es politische Kräfte, die anzweifeln, dass Seenotrettung notwendig beziehungsweise politisch hilfreich sei. Dabei gilt aktuell das Mittelmeer als Brennpunkt der europäischen Flüchtlings-Seenotrettung. Laut UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR Deutschland haben 2023 gut 257.000 Flüchtlinge und Migranten das Mittelmeer in Richtung Europa überquert. Dabei sind demnach mehr als 2.700 Menschen ertrunken.