Die Ära Willy Brandt: Wende und Zäsur innen wie außen
Am 22. Oktober 1969 wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. Der Regierungswechsel zur sozial-liberalen Koalition markiert nicht nur innenpolitisch eine Wende, sondern durch die neue Ostpolitik auch außenpolitisch eine Zäsur.
"Die Bundespolitik wurde entstaubt." So beschreibt Günter Neugebauer die Regierungszeit von Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre. Neugebauer, damals ein neues SPD-Mitglied im schleswig-holsteinischen Rendsburg, nennt den Lübecker Brandt noch heute den "Hoffnungsträger" seiner Generation: "Der stand für gesellschaftlichen Aufbruch."
Als "Wahlverlierer" an die Regierungsspitze
Willy Brandt wurde am 21. Oktober 1969 von einer sozialliberalen Koalition zum Bundeskanzler gewählt. Obwohl CDU und CSU bei der Wahl die meisten Stimmen erhielten, entschied sich die FDP unter ihrem Vorsitzenden Walter Scheel, gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierung zu bilden. Mit Sätzen, die mittlerweile legendär sind und immer wieder zitiert werden, wie dem "mehr Demokratie wagen", kündigte Brandt in seiner Regierungserklärung innenpolitische Reformen und eine neue Außenpolitik gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts an.
Euphorie in der SPD nach Brandt Amtsantritt
Günther Neugebauer erinnert sich noch gut an die Euphorie, die beim Amtsantritt von Willy Brandt in der SPD herrschte. Und an die Gesetze, die gesellschaftliche Veränderungen brachten, die vor allem die junge Generation der Studentenbewegung längst gefordert hatte: frühere Volljährigkeit und die Absenkung des Wahlalters, mehr Gleichberechtigung, sexuelle Selbstbestimmung, mehr soziale Sicherheit, eine Bildungsreform oder die Ausweitung der Mitbestimmung in den Betrieben.
Brandts Ostpolitik wird zur Zäsur
Als der eigentliche historische Einschnitt der ersten Regierung Brandt/Scheel erscheint jedoch die neue Ostpolitik. Willy Brandt hatte schon als Außenminister der vorangehenden Großen Koalition mit seinem engsten Mitarbeiter Egon Bahr an Konzepten für ein entspannteres Verhältnis zu den Staaten des Ostblocks gearbeitet - auf Grundlage der festen Einbindung der Bundesrepublik in den Westen. Brandt und Bahr gingen davon aus, dass der Kommunismus auf absehbare Zeit nicht verschwinden werde, sondern allenfalls verändert werden könne. Bahr prägte das Motto "Wandel durch Annäherung".
Es war klar, dass der Weg der Entspannung über Moskau führen musste - am 12. August 1970 wurde der Vertrag von Moskau mit der Sowjetunion unterzeichnet. Er enthielt im Kern den gegenseitigen Verzicht auf Gewalt, ausgehend von der politischen Lage, wie sie in Europa bestand. Das bedeutete: Die Bundesrepublik erkannte die seit dem Zweiten Weltkrieg existierenden Grenzen an, auch die innerdeutsche Grenze zur DDR.
Grenz-Anerkennung: "Unverletzlich" statt "unveränderlich"
Allerdings setzte Bonn durch, dass von der "Unverletzlichkeit" der Grenzen die Rede war anstelle von "Unveränderbarkeit": Das ließ eine einvernehmliche Beseitigung der innerdeutschen Grenze und eine mögliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten offen. Die Bundesrepublik akzeptierte die DDR als souveränen, gleichberechtigten Staat, vermied aber die völkerrechtliche Anerkennung als "Ausland".
Ostverträge sichern die neue Akzeptanz
Während die Opposition vom Ausverkauf deutscher Interessen sprach, erklärte Willy Brandt den Bundesbürgern: "Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war. Wir haben den Mut, ein neues Blatt in der Geschichte aufzuschlagen." Es folgten der Vertrag von Warschau im Dezember 1970, der Grundlagenvertrag mit der DDR 1972 und der Prager Vertrag 1973.
Kniefall von Warschau: "Verantwortung selten eindrucksvoller gesehen"
Neben den Ostverträgen ist es aber vor allem eine symbolische Geste Brandts, die in Erinnerung geblieben ist: der Kniefall von Warschau. Bei der Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 kniet der Bundeskanzler nieder. Der durch diese Geste offenkundig überraschte ARD-Radio-Korrespondent Peter Schnell kommentiert in seiner Live-Reportage: "Selten habe ich eindrucksvoller gesehen, dass ein Deutscher die Verantwortung für diese unermesslichen Verbrechen auf sich nimmt, wie es eben der deutsche Bundeskanzler vor dem Denkmal im Warschauer Ghetto getan hat."
Vertrauensfrage: Neuwahl bestätigt Brandts Kurs deutlich
Brandt wird 1971 für seine Ostpolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch innenpolitisch bleibt diese Politik heftig umstritten. Die Union versucht, die Ratifizierung der Ostverträge zu verhindern. Ein Misstrauensvotum gegen Brandt am 27. April 1972 scheitert. Allerdings ist der sozialliberalen Koalition durch Überläufer zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit abhandengekommen. Durch eine Vertrauensfrage ermöglicht Brandt Neuwahlen im November 1972 - bei der die Wählerinnen und Wähler Brandt Kurs in der Innen- wie Außenpolitik eindrucksvoll bestätigen: Die Sozialdemokraten stellen danach die stärkste Fraktion im Bundestag und können die Koalition mit den Liberalen fortsetzen.
Ein Wegbereiter zur Wiedervereinigung
Willy Brandt blieb nach seinem triumphalen Wahlerfolg allerdings keine zwei Jahre mehr im Amt. Nachdem einer seiner engsten Mitarbeiter, Günther Guillaume, als DDR-Spion enttarnt wurde, trat der Hoffnungsträger vieler Deutscher am 7. Mai 1974 vom Amt des Bundeskanzlers zurück. In den Augen des Rendsburger Sozialdemokraten Günter Neugebauer aber bleibt er eine Persönlichkeit, deren Aura sich kaum jemand habe entziehen können. Und ein Politiker, der ein politisches Vermächtnis hinterlassen habe, das Deutschland nachhaltig geprägt habe. "Die Politik des Wandels durch Annäherung hat aus meiner Sicht zur deutschen Einheit geführt", sagt Neugebauer. Und: "Das Weitermachen der Konfrontation hätte nie zu einer Wiedervereinigung geführt."