Die undatierte Aufnahme zeigt eine Verbindungsbrücke zwischen zwei Warschauer Häuserblöcken über eine nicht zum Ghetto gehörende Straße. Die Brücken waren eine Folge der Ghetto-Erweiterung durch die Nazis 1942. © picture-alliance / akg-images | akg-images

Von Hannover nach Warschau - Juden-Deportationen ins Ghetto

Stand: 13.04.2022 11:50 Uhr

Am 1. April 1942 verlässt ein Zug mit 891 Juden den Bahnhof Fischerhof in Hannover. Sein Ziel, das Warschauer Ghetto, das die deutschen Besatzer der Stadt 1940 eingerichtet haben, bedeutet für viele den Tod.

von Dirk Hempel

In einer ersten Deportation hatten die NS-Behörden vom Bahnhof Fischerhof aus bereits am 15. Dezember 1941 genau 1.001 Menschen, die überwiegend aus Hannover stammten, in das Ghetto von Riga verschleppt. Ende März 1942 hat die Polizei nun weitere verbliebene Juden aus Hannover, Hildesheim, Göttingen, Nienburg, Bad Pyrmont und anderen Städten der Umgebung gewaltsam zusammengetrieben und nach Ahlem im Nordwesten Hannovers gebracht.

Israelitische Gartenbauschule dient als Sammelstelle

Die Gartenanlage der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem bei Hannover auf einer Aufnahme von 1938 von Herbert Sonnenfeld. Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. FOT 88/500/283/002, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin. © Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. FOT 88/500/283/002, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin Foto: Herbert Sonnenfeld
Ausgerechnet an der Israelitischen Gartenbauschule in Hannover wurden die Juden für ihre Deportation zusammengetrieben.

Noch in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft hat die dortige Israelitische Gartenbauschule aus dem Jahr 1893 hier junge jüdische Männer und Frauen ausgebildet - vor ihrer erhofften Auswanderung nach Palästina. Jetzt drängt die Polizei auf dem Gelände Hunderte Männer, Frauen und Kinder zusammen. Tagelang müssen sie ausharren. In Koffern und Bündeln führen sie Kleidung mit sich. Die Behörden haben Reiseproviant für sechs Tage erlaubt. Wertsachen wie Schmuck, Sparbücher und Geld hat man ihnen vermutlich sofort abgenommen.

Stundenlanges Warten auf die eigene Deportation

Am Abend des 31. März werden sie dann zum Bahnhof Fischerhof gebracht, der etwas abseits der Wohnhäuser von Hannover-Linden liegt. Hinter dem zweigeschossigen Fachwerkbau erheben sich die Schornsteine und Hallen der Maschinenfabrik Hanomag, die Panzer und Kanonen für die Wehrmacht baut.

Der Sonderzug "Da 6" der Deutschen Reichsbahn aus Gelsenkirchen mit 400 Juden und einem Waggon für die Begleitmannschaft der Polizei ist für 18.15 Uhr angekündigt. Doch seine Ankunft verzögert sich. Fünf Stunden stehen die 491 Menschen in Kälte und Regen auf dem Bahnsteig in Hannover. Dann werden sie von Polizisten in die überfüllten Wagen gepfercht. Erst am nächsten Morgen fährt der Zug nach Braunschweig weiter, wo noch einmal 109 Personen zusteigen müssen. Laut Anweisung der Polizei haben sie dafür elf Minuten Zeit.

Viele verdienen an der Verschleppung der Juden

Deutsche Soldaten bei der Deportation polnischer Juden per Viehwaggon 1944. © dpa - Bildarchiv
Zigtausendfach hat es sich so abgespielt: Nachdem die Nazis ihnen bis auf wenige Kleidungsstücke alles genommen haben, werden Juden in Züge gepfercht und in Lager verfrachtet.

An den Deportationen sind überall in Deutschland verschiedene Behörden beteiligt. In Hannover zieht das Finanzamt am Waterlooplatz das Vermögen der Verschleppten ein. Ihren zurückgelassenen Hausrat können die Menschen aus dem Stadtteil Linden bei öffentlichen Versteigerungen günstig erwerben. Auch die Reichsbahn verdient an den Deportationszügen. Die Fahrtkosten müssen die Juden meist selbst bezahlen - trotz ihres geraubten Vermögens: Erwachsene zahlen je gefahrenen Kilometer 4 Pfennig, Kinder die Hälfte. Das NS-Regime bereichert sich so mit insgesamt Hunderten Millionen Reichsmark.

Ankunft im Ghetto: "Alte Leute, viele Frauen, kleine Kinder"

Das Ziel der Verschleppten aus Westfalen, Hannover und Braunschweig: das Warschauer Ghetto. Adam Czerniaków, der Vorsitzende des dortigen Judenrats, der das Leben im Ghetto auf Befehl der deutschen Besatzer organisieren muss, hat erst im Laufe des 1. April erfahren, dass in der Nacht rund 1.000 Menschen ankommen und unterzubringen sind. In seinem Tagebuch hält er am folgenden Tag fest: "Morgens um 10 war ich Zeuge der Essensausgabe. Die Deportierten haben nur kleine Gepäckstücke mitgebracht. Den über 68 Jahre Alten hatte man erlaubt, in Deutschland zu bleiben. Alte Leute, viele Frauen, kleine Kinder."

Zwangsarbeiter im Warschauer Ghetto hinter einem Stacheldraht-Zaun Anfang 1941. © picture-alliance / akg-images | akg-images
AUDIO: Warschauer Ghetto: Eine Stadt wird zum Gefängnis (15 Min)

Die Namen der Verschleppten sind bekannt

Ihre Namen sind überliefert, in Dokumentationen, bei Gedenkveranstaltungen und auf Stolpersteinen wird heute an sie erinnert. Etwa an Max Blaulicht, der vor seiner Deportation in Langenhagen im Alters- und Pflegeheim "Feierabend" wohnte. An die 14-jährige Dora-Hella Moses aus Pattensen. An Hermann Hammerschlag und seine Frau Bianka, die in Hameln einmal ein Kleidergeschäft geführt hatten. Ihre Tochter Helene Dina ist bei der Ankunft im Ghetto erst fünf Jahre alt.  

Im Warschauer Ghetto herrscht das Grauen

Ausgehungerte und frierende Kinder sitzen 1941 auf einer Straße im Warschauer Ghetto. © picture alliance / Mary Evans Picture Library
Hunger, Kälte, Krankheiten: Die Versorgungszustände im Warschauer Ghetto sind verheerend - und für viele tödlich.

Im Warschauer Ghetto finden sie grauenvolle Zustände vor. Auf drei Quadratkilometern sind hier etwa 400.000 Menschen eingesperrt, zeitweise auch mehr. Sie sind von einer drei Meter hohen, 18 Kilometer langen und mit Stacheldraht bewehrten Mauer umgeben und werden von der Polizei streng überwacht.

Die Neuankömmlinge werden auf die übervollen Wohnquartiere verteilt, in denen die Menschen mit sieben bis acht Personen in einem Zimmer leben. Viele dürfen zwar arbeiten, auch außerhalb des Ghettos. Vor allem Fabriken, die für die Wehrmacht produzieren, profitieren von den billigen Zwangsarbeitern. Doch die deutschen Behörden haben deren Tod einkalkuliert. Brutal terrorisieren sie die Eingesperrten. Das Essen ist knapp. Die offizielle Monatsration reicht nur für wenige Tage. Es gibt kein Fleisch, keine Fette, kaum Gemüse. Wegen der Enge auf den Straßen und in den Häusern breiten sich Fleckfieber, Typhus und Tuberkulose aus.

Die Toten liegen auf der Straße

Nachts hört man das Stöhnen der Sterbenden. Der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der das Ghetto zusammen mit seiner Frau überlebt hat, berichtet in seiner Autobiografie:

Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur notdürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte. Marcel Reich-Ranicki, "Mein Leben", 1999

80.000 Menschen sterben an Unterernährung und Krankheiten, erfrieren im Winter in den ungeheizten Wohnungen, werden von den Besatzern ermordet.

Warschauer Ghetto wird auch Ort der Selbsthilfe

Die Eingesperrten gründen Fürsorgekomitees, richten Suppenküchen, Krankenhäuser und Altersheime ein und veranstalten Kleidersammlungen. Es gibt Schulunterricht für Kinder. Künstler geben Konzerte, treten bei Lesungen und Theateraufführungen auf, um die Menschen abzulenken und Lebensmut zu vermitteln. Der Historiker Emanuel Ringelblum gründet im Untergrund ein Archiv, das schon damals Aufzeichnungen und Berichte sammelt. Heute gibt es zahlreiche Bücher, die das Leben und Sterben im Ghetto dokumentieren. Etwa das Tagebuch des Arztes Janusz Korczak, der mit den Kindern seines Waisenhauses ermordet wurde, oder die Erinnerungen des Pianisten Władysław Szpilman, der im Versteck überlebte.

"Umsiedlung" nach Treblinka - Im Ghetto keimt Widerstand

Kurz vor ihrem Abtransport in das NS-Vernichtungslager Treblinka stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen und von deinem deutschen Soldaten bewacht in einem Innenhof des Warschauer Ghettos. © picture-alliance / dpa
Vom Warschauer Ghetto nach Treblinka: In dem Vernichtungslager ermordeten die Nazis geschätzt mehr als eine Million Menschen.

Im Juli 1942 beginnt auf Befehl des SS-Reichsführers Heinrich Himmler die "Umsiedlung" der Bewohner in das Vernichtungslager Treblinka im Nordosten Polens. Bis September tötet die SS allein dort etwa 280.000 Juden aus Warschau. Im Ghetto bleiben 60.000 Menschen zurück. Viele sind entschlossen, Widerstand zu leisten. Sie gründen eine Kampforganisation und beschaffen sich mithilfe der polnischen Untergrund-Armee Waffen, vor allem Pistolen und Sprengstoff. Im Januar 1943 greifen sie erstmals deutsche Wachmannschaften an, während diese gerade Juden zum Abtransport nach Treblinka zusammentreiben.

Warschauer Aufstand und Ende des Ghettos

Bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto durch die SS 1943 flüchten Frauen und Kinder mit erhobenen Händen aus einem von den deutschen Truppen eroberten Haus. (Aus dem Album von SS-Gruppenführer und Polizei-Generalmajor Jürgen Stroop) © picture-alliance / IMAGNO/Austrian Archives | Anonym
Die deutschen Truppen schlagen den Widerstand im Warschauer Ghetto im Frühjhar 1943 brutal nieder.

Als das Ghetto am 18. April 1943 von SS-Einheiten umstellt wird, die erneute Deportationen planen, beginnt die jüdische Kampforganisation einen Aufstand. Wochenlang liefern sich die Kämpfer Gefechte mit den Deutschen. Erst im Mai kann die SS die Revolte niederschlagen. Die meisten überlebenden Juden werden in den Lagern Treblinka und Majdanek ermordet, die Reste des Ghettos vollkommen niedergebrannt.

Der Bahnhof Fischerhof und die Erinnerung

Vom Bahnhof in Hannover-Fischerhof fahren bis Januar 1944 insgesamt acht Deportationszüge mit etwa 2.200 Menschen ab. Im März 1943 werden von hier aus auch mehr als 100 Sinti aus Hannover und Umgebung in das KZ Auschwitz verschleppt. Zur Erinnerung an alle Opfer der NS-Zeit hat der Niedersächsische Verband deutscher Sinti im Jahr 1996 ein Mahnmal gestiftet, das in der Nähe des ehemaligen, längst abgerissenen Bahnhofsgebäudes steht. Nur wenige der Deportierten haben den Holocaust überlebt. Die Spuren der Menschen, die am 1. April 1942 vom Bahnhof Fischerhof deportiert wurden, verlieren sich im Warschauer Ghetto.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Dokfilm | 21.04.2021 | 00:00 Uhr

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