Willy Brandt am Rednerpult beim SPD-Parteitag am 13. Oktober 1972 © picture alliance / Klaus Rose

Willy Brandt - Hoffnungsträger der 68er?

Stand: 08.10.2022 05:00 Uhr

Willy Brandt bringt in den 60er-Jahren einen neuen Stil in die deutsche Politik und begeistert damit die Massen. Der kritischen jungen Generation ist er jedoch zunächst fremd.

von Dirk Hempel

Am 27. April 1972, dem Tag des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Willy Brandt, sitzen Millionen vor dem Fernseher - auch ehemals linksradikale Studenten. Gebannt verfolgen sie die Live-Übertragung aus dem Bundestag. Als klar wird, dass die Abgeordneten den CDU-Kandidaten Rainer Barzel nicht zum neuen Regierungschef gewählt haben, jubeln die Rebellen, liegen sich in den Armen: Brandt hat gewonnen. Auch bei der kritischen jungen Generation.

Den 68ern ist die SPD fremd

Willy Brandt verliest 1969 im Bonner Bundestag seine Regierungserklärung © picture alliance/AP Images
"Mehr Demokratie wagen": Bei Amtsantritt macht Brandt 1969 Hoffnung auf ein offeneres Deutschland.

Die war der SPD zuvor eigentlich seit Jahren entfremdet, hatte sich die Partei 1965 doch vom marxistisch orientierten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) getrennt. Der erste SPD-Kanzler der Bundesrepublik hat zwar in seiner Regierungserklärung 1969 gesellschaftliche Reformen angekündigt und versprochen: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Die aber wollen linke Studentengruppen gerade abschaffen. Unzufrieden mit den alten politischen Autoritäten und den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik begehren sie auf.

"Frag, was du für dein Land tun kannst!“

Ihre Idole heißen Mao Tse-tung, Ho Tschi Minh und Che Guevara, ihr Ziel: die Revolution. Schon zu Zeiten der Großen Koalition hat Brandt sie heftig kritisiert, als Träumer und Radikale. Demonstranten ruft er zu: "Pöbel bleibt Pöbel, auch wenn junge Gesichter darunter sind. Intoleranz und Terror, ob sie von links kommen oder von rechts, dürfen die Freiheit nicht benutzen, um sie zu zerstören."

In seiner Regierungserklärung von 1969 erinnert er die Angehörigen der jungen Generation in Anlehnung an das berühmte Wort Kennedys ("Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst!") daran, "dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben".

Aber die SPD ist inzwischen für die rebellische Jugend eine Partei, die für die Verabschiedung der heftig umstrittenen Notstandsgesetze im Bundestag mitverantwortlich ist. Brandt gilt ihnen als ein Vertreter der bekämpften "Herrschenden". Vor allem in den Universitätsstädten hat sich eine außerparlamentarische Opposition gebildet, die Massenproteste organisiert, Sitzblockaden und Straßensperren.

Kein Verständnis fürs Extrem

Polizisten gehen in Berlin mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. © picture-alliance / dpa
1968 gehen in Deutschland Zehntausende Studenten auf die Straße. Sie protestieren unter anderem gegen die Notstandsgesetze.

Für den Umsturz der politischen Verhältnisse, den radikale Teile der Studentenbewegung fordern, hat Brandt allerdings kein Verständnis. Als junger Mann hat er sich im norwegischen Exil selbst vom dogmatischen Sozialisten zum pragmatischen Sozialdemokraten gewandelt, beeindruckt durch das Demokratieverständnis der volksnahen skandinavischen Arbeiterparteien.

Brandts Vorbild heißt John F. Kennedy

Sein Vorbild heißt John F. Kennedy, der zehn Jahre zuvor einen neuen Stil in die Politik eingeführt hat, für Aufbruch steht und Veränderung, virtuos die Medien beherrscht, die Menschen durch seine Reden begeistert, durch Worte und Gesten. Kennedy hat den Kalten Krieg beendet, eine Annäherung an die Sowjetunion begonnen.

Willy Brandt (stehend) in einem offenen Wagen bei einer Fahrt durch die von Menschen gesäumten Straßen von New York 1959. © picture-alliance / dpa Foto: UPI
Bei seinem Besuch in New York jubeln die Amerikaner Willy Brandt schon 1959 zu.

Als er 1960 zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird, ist Brandt gerade Kanzlerkandidat seiner Partei geworden. Die SPD befindet sich im Umbruch, will sich endlich modernisieren, um die Regierung zu übernehmen. In den USA, bei Kennedy und seiner Demokratischen Partei, holen sich Brandt und seine Wahlkampfmanager Anregungen.

Auch die Amerikaner halten viel von Brandt. Er stehe für Jugend und den "new look", sei außerordentlich clever, besitze administrative Fähigkeiten und sei fähig zu großen Entscheidungen, urteilt das US-Außenministerium über den deutschen Kanzlerkandidaten. Man hält ihn für einen Politiker, der alle Voraussetzungen für eine große Karriere im Medienzeitalter besitze.

Der neue Stil: Wahlkampf 1961

John F. Kennedy, Willy Brandt, Konrad Adenauer in Berlin am 26. Juni 1963 © picture alliance/Associated Press
1963 besucht Kennedy Berlin. Die beiden (hier mit Adenauer, r.) sind sich auch persönlich sympathisch.

Aber es ist nicht nur die Inszenierung im Wahlkampf 1961, in dem Brandt mit einem cremefarbenen Mercedes-Cabriolet durch die Straßen fährt, mit Frau Rut und den Kindern ähnlich wie Kennedy als glücklicher Familienvater präsentiert wird. Die beiden Politiker sind sich auch persönlich sympathisch, gehören der gleichen Generation an. Ihr Umgang ist locker, sogar freundschaftlich.

Mit ihrem Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild will die SPD 1961 vor allem andere Wählerschichten ansprechen als ihre Stammklientel, die ein Ende der Ära Adenauer wünschen, eine Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft. Aber das Konzept geht noch nicht auf, es ist noch zu früh für einen neuen Politikertyp, die Zeit noch nicht reif für Veränderungen.

Auch nach Kennedys Tod 1963 beschwört Brandt weiterhin die Verbundenheit mit dem ermordeten US-Präsidenten, lehnt sich noch immer an dessen politischen und medialen Stil an. Aber als er dann Außenminister in der Großen Koalition wird, erreicht er damit die junge Generation nicht mehr.

Brandt entwickelt nur langsam Verständnis für die junge Generation

Studenten protestieren im Februar 1968 in Berlin gegen den Vietnamkrieg und tragen Bilder von Ho-Chi-Min und Che Guevara. © picture alliance/dpa Foto: Klaus Rose
Ihre Idole heißen Ho Tschi Minh und Che Guevara: Studentenproteste in Berlin gegen den Vietnamkrieg, Februar 1968.

Mit der Amerikanisierung seines öffentlichen Auftretens ist Brandt zwar modern, seiner Zeit weit voraus, aber gerade die kritische Jugend wendet sich in diesen Jahren wegen des Vietnamkriegs von den USA und ihrer Politik ab. Demonstrationen enden jetzt in Straßenschlachten. Massiver Polizeieinsatz und die Eskalation der Gewalt führen zu einer tiefen Vertrauenskrise der Jugend gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Als Politiker verteidigt Willy Brandt diesen Staat mit Härte, steht als Außenminister, dann als Bundeskanzler an führender Stelle, wird selbst bei einer Veranstaltung attackiert.

Aber als Privatmann entwickelt er allmählich Verständnis für das Aufbegehren der Jugend, ihre Gedanken und Emotionen. Als sein Sohn Peter, der den Studentenführer Rudi Dutschke für eine Schülerzeitung interviewt hat, 1968 wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Vietnam-Kundgebung verhaftet wird, verbittet Brandt sich jegliche Kommentare und Angriffe als Einmischung in Familienangelegenheiten.

Die SPD ändert ihre Haltung und geht auf die Jugend zu

Willy Brandt bei einer Rede 1972 © imago Foto: Sven Simon
Brückenschlag zwischen den Generationen: Nach und nach entwickelt Brandt Verständnis für die Anliegen der 68er.

Wohl auch unter dem Einfluss jüngerer Politiker in der SPD ändert sich jetzt langsam seine Haltung gegenüber den jugendlichen Rebellen. Er würde sie gern in seiner Partei willkommen heißen, diese Generation, "auf die wir gewartet haben".  In seinen Reden fordert er zwar noch immer Ordnung und Respekt vor dem Gesetz, verbindet damit aber inzwischen den Appell, die Unruhe unter der Jugend politisch aufzunehmen, wirbt um Verständnis für ihr Anliegen.

Es ist der Vater-Sohn-Konflikt in der eigenen Familie, der Brandt zum Brückenschlag zwischen den Generationen befähigt und der ihn bei seinen Zuhörern glaubwürdig macht. "Jugend ist kein Verdienst", ruft er ihnen zu, aber auch: "Alter ist kein Verdienst." Er nennt die "Selbstherrlichkeit junger Leute ebenso töricht wie die Besserwisserei der Alten".

Die 68er erkennen Brandt an

Den Forderungen nach Öffnung der Gesellschaft und dem Ende von gesellschaftlichen Zwängen kann und will sich die SPD auf Dauer nicht verschließen. Auch weil sie dringend neue Wählerstimmen braucht.

Und die kritische Jugend beginnt ihrerseits ihre Haltung gegenüber Brandt zu überdenken. Immerhin hat er die Aussöhnung mit dem Osten vollzogen, für seine Entspannungspolitik sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Überhaupt erscheint er als Widerstandskämpfer besonders glaubwürdig, da ansonsten immer noch ehemalige NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere in Bonn den Ton angeben. Und je mehr Brandt von den Konservativen als national unzuverlässiger Emigrant verunglimpft wird, desto höher steigt sein Ansehen in der außerparlamentarischen Opposition.

Signale der politischen Erneuerung

Auch die von Brandt betriebene Nominierung Gustav Heinemanns zum SPD-Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten 1969 ist ein Signal für die Erneuerung der Politik. Denn Heinemann gilt als moralische Instanz, hat Verständnis für die kritische Jugendbewegung gezeigt, redete nach dem Attentat auf Dutschke 1968 auch den Bürgern ins Gewissen. Zudem diskutiert Brandt mit Studentenvertretern, beruft Anfang 1969 sogar einen Jugendkongress ein, setzt eine Amnestie für Demonstrationsdelikte durch, wird so allmählich zum Förderer der kritischen Studentengeneration.

Der Kanzler bewegt die Massen

Willy Brandt bei einer Rede im Bundestagswahlkampf im Sommer 1972. © imago Foto: Sven Simon
Mit Brandt an der Spitze erschließt sich die SPD neue Wählerschichten.Der Wahlkampf 1972 wird zur "Willy-Wahl".

Er ist inzwischen für weite Teile der westdeutschen Bevölkerung zur Symbolfigur eines moralischen Politikers geworden und hat sein Vorbild Kennedy hinter sich gelassen. Auch wenn er sich noch immer auf dessen Vorstellung von Mitleid und Barmherzigkeit beruft - und damit jetzt die Massen erreicht, neue Wählerschichten erschließt: Intellektuelle, Künstler, Mittelständler, junge Leute.

Durch seine langsam und verhalten vorgetragenen Reden zieht er die Menschen in seinen Bann, macht Wahlveranstaltungen zu Weihestunden. Die Verehrung für den Kanzler nimmt bald religiöse Züge an. Alte Frauen stecken ihm Amulette und Rosenkränze zu, wenn er einen Saal betritt. Menschen versuchen ihn zu berühren, beginnen zu weinen.

Die 68er auf dem Weg in die SPD

Auch den harten Rebellen von 1968 stehen die Tränen in den Augen. Ihre Kämpfe sind zu diesem Zeitpunkt bereits vorüber. Die meisten ehemaligen Radikalen und ihre Sympathisanten haben sich angesichts des aufkommenden Linksterrorismus inzwischen gegen die Revolution und für Reformen entschieden. Nun finden viele den Weg in die SPD.

1972 wird zur Willy-Wahl

Siegfried Lenz im Gespräch mit Günter Grass, dahinter Willy Brandt (Bild von 1977) © Imago Foto: Sven Simon
Schriftsteller wie Siegfried Lenz und Günter Grass setzen sich auch bei den protestierenden Studenten für den Kanzler ein.

Die Unterstützung für Brandts Wahlkampf im Herbst 1972 ist überwältigend. Auch Künstler, Schriftsteller, Journalisten und andere Prominente geben die Distanz zur Politik auf, engagieren sich für Brandt. Die Unterstützergruppe um Günter Grass und Siegfried Lenz etwa wirbt vor allem in der studentische Protestbewegung für den Kanzler. Hunderte Wählerinitiativen parteiloser Bürger schießen im ganzen Land aus dem Boden. Die parteikritischen Jungsozialisten verteilen nun Flugblätter, Autoaufkleber und Buttons für die "Willy-Wahl".

Sie wird zur Abstimmung über den neuen Politikstil, über Entspannungspolitik und gesellschaftliche Reformen im eigenen Land. Deshalb erreicht die Wahlbeteiligung am 19. November 1972 die Rekordhöhe von 91,1 Prozent. Die Sozialdemokraten gewinnen mit 45,8 Prozent der Stimmen. Unter den Jungwählern haben sogar knapp zwei Drittel für die SPD gestimmt - wegen Willy Brandt.

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Unsere Geschichte | 08.10.2022 | 12:00 Uhr

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