Willy Brandt in Norwegen, Zeltlager, ca. 1935, Zeitung lesend © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung

Prägende Jahre: Willy Brandt im Exil

Stand: 08.10.2022 05:00 Uhr

1933 nimmt der 19-jährige Herbert Frahm den Decknamen Willy Brand an und flüchtet vor den Nazis nach Norwegen. Im Exil wird der radikale Linke zum pragmatischen Sozialdemokraten.

von Dirk Hempel

Lübeck, Anfang der 1930er-Jahre: Der Gymnasiast Herbert Frahm wird Mitglied der SPD, wie schon sein Großvater, der als Lastautofahrer im Lübecker Dräger-Werk arbeitet. Aber bald schon wechselt er zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), einer linken Splittergruppe, und leitet deren Jugendverband in der Hansestadt.

Deckname "Willy Brandt"

Nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 beginnen die Nationalsozialisten, ihre Gegner brutal zu verfolgen. Gestapo und SA inhaftieren vor allem Kommunisten und Sozialisten. Viele werden gefoltert und ermordet. Tausende Politiker, Intellektuelle und Künstler verlassen das Land. Herbert Frahm geht in den Untergrund. In Lübeck verteilt er Flugblätter für die SAP, ruft zum Kampf gegen die Gewaltherrschaft auf. Um sich zu schützen, nimmt er jetzt den Decknamen "Willy Brandt" an.

Flucht über die Ostsee

Im März erhält er von der Parteileitung den Auftrag, einen führenden Genossen über die Ostsee zu bringen, der in Oslo Geldquellen für die Widerstandsarbeit erschließen soll. Als dieser auf Fehmarn festgenommen wird, soll Brandt für ihn einspringen. Außerdem ist er selbst in Gefahr: "Ich war vor meiner unmittelbar bevorstehenden Verhaftung gewarnt worden und musste auf Grund lokaler Gegebenheiten mit dem Schlimmsten rechnen", erinnert er sich später.

Anfang April geht Brandt abends in Travemünde an Bord eines Fischkutters. In seiner Aktentasche befinden sich Unterwäsche, Rasierzeug, Hemden und der erste Band des "Kapitals" von Karl Marx. Außerdem hat ihm sein Großvater noch 100 Mark zugesteckt. Der sozialdemokratische Fischer verbirgt ihn unter Tauwerk und leeren Kisten, sodass der Zollbeamte ihn bei seiner nächtlichen Kontrolle nicht entdeckt. Die Überfahrt wird stürmisch. Wellen, Regen und Kälte setzen dem 19-jährigen Brandt zu. Gegen halb sechs Uhr morgens geht er in Rödbyhavn an Land, stärkt sich mit Kaffee und Aquavit.

Parteiarbeit in Oslo

Über Kopenhagen reist er nach Oslo, wo er bald einen Parteistützpunkt aufbaut, der die Genossen in Deutschland mit Informationen und Material versorgt. Er sammelt Geld, hält Vorträge, verfasst Bücher und Zeitungsartikel, die die Norweger über den wahren Charakter der NS-Diktatur aufklären sollen. Er lernt die Landessprache rasch und unterhält gute Beziehungen zur norwegischen Arbeiterpartei DNA (Det norske Arbeiderparti), die sich bereits in den 20er-Jahren vom Kommunismus distanziert und den Weg des demokratischen Sozialismus eingeschlagen hat.

Brandt erkämpft den Friedensnobelpreis für Carl von Ossietzky

Brandt wird rasch zum Netzwerker. Er organisiert eine Kampagne für den pazifistischen Schriftsteller Carl von Ossietzky, den die Nazis ins KZ gesperrt haben. Mit Thomas Mann, Albert Einstein und Virginia Woolf gewinnt er international renommierte Unterstützer für den Plan, der Ende 1936 zum Erfolg führt, auch wenn die NS-Behörden Ossietzky nicht zur Preisverleihung nach Oslo reisen lassen.

Mit gefälschtem Pass zurück nach Berlin

Von der Gestapo bespitzelt und von der norwegischen Fremdenpolizei beargwöhnt, reist Brandt häufig nach Paris zur Auslandszentrale der SAP, zu Konferenzen in die Niederlande, nach Großbritannien und Schweden. Im Herbst 1936, wenige Monate nach den Olympischen Spielen, verbringt er einige Zeit in Berlin, um dort die Untergrundgruppe seiner Partei neu zu organisieren. Mit gefälschtem Pass, getarnt als norwegischer Student, erhält er in der Reichshauptstadt einen Eindruck vom Leben der Menschen unter Hitler. Er mietet ein Zimmer am Kurfürstendamm. Vormittags studiert er in der Staatsbibliothek NS-Propagandaschriften, danach trifft er Oppositionelle. Deutsch spricht er nur mit Akzent.

Willy Brandt im spanischen Bürgerkrieg

Willy Brandt in Barcelona, ca. 1937 © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung
1937 reist Brandt nach Barcelona, um Verbindung zu den Republikanern im spanischen Bürgerkrieg aufzunehmen.

Im Frühjahr des folgenden Jahres schickt ihn die SAP-Leitung als Verbindungsmann zu den spanischen Republikanern nach Barcelona. Er erlebt die Kämpfe des Bürgerkriegs gegen die Faschisten aus nächster Nähe, beobachtet deren Grausamkeiten. "Ich fand bestätigt, dass der Krieg die Bestie im Menschen herauslockt", schreibt er später über diese Zeit. Überrascht beobachtet er auch die Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und Kommunisten, die problematischen Folgen der sowjetischen Einmischung.

Flucht nach Schweden

Willy Brandt mit seiner ersten Ehefrau Carlota Thorkildsenund Tochter Ninja in Stockholm © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung
1941 heiratet Brandt Carlota Thorkildsen, hier mit der gemeinsamen Tochter Ninja.

Die Bindung an sein Gastland wird bald noch enger. "Das Vaterland ist da, wo die Freiheit ist", sagt er später. Mittlerweile gehört er als Mitglied des Osloer Arbeitervereins auch der DNA an und arbeitet in der norwegischen Matrosengewerkschaft mit. Als die deutsche Wehrmacht im April 1940 Norwegen überfällt, gerät er in Gefangenschaft, bleibt jedoch unerkannt und kann bald nach Stockholm fliehen. Die norwegische Exilregierung verleiht ihm die Staatsbürgerschaft, nachdem ihn die NS-Behörden bereits 1938 ausgebürgert haben. Brandt engagiert sich in den folgenden Jahren nun auch für den Freiheitskampf seiner Exil-Heimat. 1941 heiratet er Carlota Thorkildsen, die noch in Oslo die gemeinsame Tochter Ninja zur Welt gebracht hat. Doch die Ehe scheitert bald. In Schweden lernt er seine spätere zweite Frau Rut Bergaust kennen, eine norwegische Widerstandskämpferin.

Brandts Wandel zum Sozialdemokraten

Die Jahre in Skandinavien, die dortige Gesellschaft und Politik beginnen ihn zu prägen und einen folgenreichen Wandel einzuleiten. Vor allem beeinflusst ihn die skandinavische Sozialdemokratie. Die DNA verfolgt nach der Absage an den Marxismus als Regierungspartei einen mehrheitsfähigen Kurs. Sie führt moderate Reformen durch und zieht dadurch auch Bürgerliche und Intellektuelle an. Schon in den 30er-Jahren hat den jungen Linkssozialisten Brandt die parlamentarische Praxis Norwegens beeindruckt, wo er selbst den König als "eine Art Sozialdemokrat" erlebt. In Schweden bewundert er nun den Freiheitswillen und die Volksverbundenheit der Arbeiterpartei.

Die "Kleine Internationale"

1944 tritt er wieder in die SPD ein - "Landesgruppe deutscher Sozialdemokraten in Schweden" - und arbeitet mit Politikern aus anderen Ländern, etwa dem späteren österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, in der sogenannten Kleinen Internationalen zusammen. Gemeinsam formulieren sie Friedensziele einer demokratischen Nachkriegsordnung für Europa. Brandt, so Kreisky später, sei der "Inbegriff des politischen Verstandes" gewesen, der "hervorragendste Exponent der deutschsprachigen politischen Emigration" im Norden.

Weitere Informationen
Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

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ckkehr ins zerstörte Deutschland

Brandt unterhält auch rege Kontakte zu westlichen Botschaften und Geheimdiensten, versucht deutschen Widerstandskreisen Verbindungen zu den Alliierten zu vermitteln. Mitte Mai 1945, eine Woche nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, kehrt er in das befreite Oslo zurück. Erst Monate später fährt er auch nach Deutschland, besucht seine Mutter im vollkommen zerstörten Lübeck, das er nicht wiedererkennt ("Schutt und Asche", wird er später schreiben). Er ist jetzt als Korrespondent der skandinavischen Arbeiterpresse bei den Nürnberger Prozessen akkreditiert.  Ein Jahr später geht er als Presseattaché an die norwegische Militärmission in Berlin, Rut Bergaust folgt ihm als seine Sekretärin.

"Vorsprung an Lebenserfahrung"

Dass er in norwegischer Uniform aus dem Exil zurückkehrt, werden ihm seine politischen Gegner später ebenso vorwerfen wie seine uneheliche Herkunft, die Tätigkeit im Spanischen Bürgerkrieg und die Annahme der norwegischen Staatsbürgerschaft. "Brandt alias Frahm", der "Vaterlandsverräter", werden viele Konservativen schimpfen. Brandt jedoch haben diese Jahre in Skandinavien entscheidend geprägt. Er hat nicht nur einen "Vorsprung an Lebenserfahrung" erworben - wie Helmut Schmidt später urteilen wird - , sondern sich vor allem vom dogmatischen Sozialisten zum pragmatischen Sozialdemokraten gewandelt: die entscheidende Voraussetzung für seine politischen Erfolge in der späteren Bundesrepublik.

Dieses Thema im Programm:

Unsere Geschichte | 08.10.2022 | 12:00 Uhr

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