Breiter Protest gegen rechts - eine dauerhafte Bewegung?
Tausende demonstrieren derzeit überall in Deutschland gegen die AfD und einen bekannt gewordenen Plan zur "Remigration" - der vorsieht, dass Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen sollen. Der NDR hat in Schwerin mit Demonstrierenden gesprochen.
"Nazis raus!", "Ganz Schwerin hasst die AfD" und "Alle zusammen gegen den Faschismus", hallt es an diesem kalten Dienstagabend über den Schweriner Marktplatz. Etwa 1.600 Menschen haben sich versammelt, um gegen Rechtsextremismus und für den Erhalt der Demokratie zu protestieren. Auch an anderen Orten im Norden wird demonstriert. In Hannover gingen am Dienstag 8.500 Menschen gegen rechts auf die Straße, in Rostock waren es tags zuvor 2.500, in Hamburg am vergangenen Donnerstag 2.000. Bundesweit ist der Zulauf in großen Städten noch stärker: 25.000 am Sonntag vor dem Brandenburger Tor in Berlin, 10.000 in Potsdam, geschätzt 30.000 am Dienstag in Köln, 10.000 am Mittwochabend in Freiburg.
Mobilisiert hat die Protestierenden ein Bericht des Recherchenetzwerks Correctiv über ein Treffen von AfD-Funktionären sowie einzelnen Mitgliedern der CDU und der erzkonservativen Werteunion in einer Potsdamer Villa im November. Dem Bericht zufolge hatte dort einer der führenden Köpfe der rechtsextremen Identitären Bewegung, Martin Sellner, über "Remigration" gesprochen - ein rechtes Konzept zur massenhaften Rückführung von Menschen mit Migrationshintergrund.
Pläne zur Ausweisung von Millionen Menschen aus Deutschland? Die Empörung und Sorge, die dieser Bericht ausgelöst hat, ist überall sichtbar und greifbar. Mittlerweile ist von einem Aufstand der Zivilgesellschaft die Rede. Was treibt die Menschen an, die nun auf die Straßen gehen?
Jeannot Ekobe: "Es macht mir Angst"
Jeannot Ekobe ist wissenschaftlicher Referent für die SPD im Schweriner Landtag, zur Demo sei er aber als Privatperson gekommen, betont der 35-Jährige: "Ich hoffe, dass das der Startpunkt ist, dass die bisher schweigende Bevölkerung jetzt aufsteht und sich engagiert, für Demokratie und Akzeptanz. Ehrlich gesagt, hätte ich eine solche Demo schon längst erwartet", sagt er mit Blick auf Umfrage-Ergebnisse der AfD. Laut einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap im Auftrag des NDR vom September 2023 war die Partei stärkste Kraft im Nordosten.
Ekobe ist in Kamerun geboren. 2016 kam er aus seinem Heimatland nach München, hat in Philosophie und Literaturwissenschaften promoviert, seit 2021 ist er in Schwerin. Er sei "total erschüttert" von der Correctiv-Recherche. "Ich hatte zwar schon viele Informationen, was die AfD so macht. Aber dass sie tatsächlich so denken und vorhaben, das auch in die Praxis umzusetzen, macht mir Angst", sagt er. "Auf der anderen Seite weiß ich, dass viele Leute bereit sind, dagegen zu kämpfen."
Er selbst sei schon öfter auf der Straße rassistisch angefeindet worden. Und in der Disco sei ihm häufiger der Einlass verweigert worden, einmal sogar mit der Begründung: "Die Disco ist heute nur für weiße Leute, für uns, für Deutsche." Viele seiner Freunde hätten Schwerin schon verlassen. Und auch er überlegt: "Vielleicht sollte ich nach Frankreich ziehen - oder nach Berlin, Hamburg oder München? Vielleicht wäre es einfacher für mich in einer Großstadt."
Leo Schmidt: "Ich glaube, es ist ein Erwachen"
Leo Schmidt ist in Deutschland geboren, als queerer Aktivist kennt auch er Anfeindungen aus dem radikalen Lager. Die Enthüllungen über das Potsdamer Treffen hätten ihn nicht überrascht, sagt der 23-Jährige: "Wir haben im vergangenen Jahr schon gesehen, dass zum Beispiel im Vorfeld des Christopher Street Days in Neubrandenburg eine Hakenkreuz-Flagge gehisst wurde. Es gibt täglich queer-feindliche Angriffe, die gegen eine bestimmte Menschengruppe zielen. Das erinnert einfach nur an ganz dunkle Tage in der deutschen Geschichte. Und da ist der Aufruf von uns, sich dagegenzustellen."
Schmidt ist mit seinen Mitstreitern vom Landesverband der queeren Vereine in Mecklenburg-Vorpommern nach Schwerin gekommen. Dass offenbar viele Menschen unterwegs sind, die sonst nicht zu Demonstrationen gehen, freut ihn: "Ich glaube, es ist ein Erwachen. Die Menschen merken: Wir müssen jetzt etwas tun. Die Bedrohung ist real geworden durch solche Pläne."
Schwerin: "Stichwahl mit AfD - fand ich nicht geil"
Mit ihrer Meinung halten die meisten Menschen bei der Demo in Schwerin nicht hinter dem Berg, auch wenn einige ihre Namen nicht nennen wollen. Auf die Frage, was er gedacht habe, als er von der Correctiv-Recherche erfuhr, sagt ein junger Mann: "Scheiß Nazis!" Die Leute sollten mehr nachdenken, dass sie nicht die Falschen wählten, fügt er hinzu: "Das hat man ja in Schwerin gesehen: Stichwahl mit AfD - fand ich nicht geil." Im Juni 2023 hatte sich Oberbürgermeister Rico Badenschier von der SPD erst in einer Stichwahl gegen AfD-Herausforderer Leif-Erik Holm durchgesetzt.
Ein AfD-Anhänger äußert sich am Rande der Demonstration ebenfalls gegenüber dem NDR: "Ich verstehe nicht, warum die AfD immer in die rechte Ecke gedrängt wird. Alles, was die AfD sagt, finde ich in Ordnung", sagt er. Angesprochen auf den Bericht über das Potsdamer Treffen sagt er, er habe das im Fernsehen gesehen. "Was soll ich dazu sagen? Ich glaube nicht, dass die AfD dafür ist, dass die Leute ausgewiesen werden sollen. Das kann ich mir nicht vorstellen. Und ich würde da auch nicht zustimmen."
"Sie merken hoffentlich, dass die AfD keine Lösungen hat"
Eine Frau sagt, sie sei froh, dass nun offenbar geworden sei, was die AfD denke und auch konkret plane. "Ich hoffe nur, dass die Menschen, die aus Protest solche Gruppierungen wählen, irgendwann mal aufwachen und merken, dass Protest allein Probleme nicht löst. Und dass die AfD und ihre Anhänger keine Lösungen haben."
Sie kritisiert auch die Medien: Sie ließen die Mehrheit der Gesellschaft nicht genug zu Wort kommen. "Es wird zu wenig darüber berichtet, wie viele Menschen friedlich miteinander leben. Die Mehrheit der Bevölkerung denkt so wie die Menschen, die heute hier sind. Und ich bin froh, dass die Menschen sich auch zeigen und nicht zu Hause sitzen und jammern."
"So fing es bei den Nazis auch an"
Ein älterer Mann pflichtet ihr bei: "Im Fernsehen wird viel zu viel über die rechten Auswüchse berichtet. Die schweigende Mehrheit der Gesellschaft muss sich endlich zeigen. Damit man sieht, dass die große Menge eine andere Meinung vertritt", sagt er. Über das, was Rechtsextreme hinter verschlossenen Türen offenbar verhandeln, ist er fassungslos: "Ich habe gedacht, das kann nicht wahr sein, dass sich in Deutschland so etwas wiederholt. Dass sich überhaupt Leute in solchen Kreisen zusammenfinden, gebildete Leute, Unternehmer, Zahnärzte, Ärzte - alles dabei. So fing es bei den Nazis auch an."
Ein Verbotsverfahren gegen die AfD hält er dennoch nicht für den richtigen Weg. "Dafür ist es jetzt zu spät. Die ist zu groß und würde in die Märtyrer-Rolle gedrängt werden. Man muss jetzt einfach Flagge zeigen und entsprechend agieren - hier und bei den etablierten Parteien."
Josephine Glöckner: Wo ist die Brandmauer?
Eine deutlichere politische Positionierung gegen den Rechtsruck in Deutschland fordert auch Josephine Glöckner. Die 28-Jährige arbeitet in Schwerin im kommunalen Konfliktmanagement, das zum Bundesprogramm "Demokratie leben!" gehört. Die Zivilgesellschaft setze jetzt ein wichtiges Zeichen, aber die Politik müsse nachziehen.
"Es kann nicht sein, dass Grenzen immer mehr aufgeweicht werden. Diese Brandmauer, von der immer geredet wird, wo ist die? Ich denke, das ist auch ein Zeichen, dass Menschen hier zusammenkommen und sagen: Wir brauchen diese Grenzen, es muss eine Abgrenzung nach rechts geben." Sie wünsche sich, "dass wir laut bleiben und sichtbar und uns nicht kleinkriegen lassen".
Protestforscher Sydiq: Rechtsradikale hoffen auf kurzes Empörungsfeuer
Der Protestforscher Tareq Sydiq von der Universität Marburg ist gespannt, ob die jetzt neu formierte Protestbewegung über eine "kurzfristige Empörung" hinaus bestehen bleibt und eine politische Vision und Forderung entwickelt. "Das ist ja auch die Hoffnung zum Beispiel von rechtsradikaler Seite, dass das nur so ein kurzes Empörungsfeuer ist, das sehr schnell ausgebrannt ist", sagt er dem NDR.
Überrascht hat den Wissenschaftler, wie schnell die Proteste groß geworden sind, dass es keinen regionalen Schwerpunkt gibt. Überall in Deutschland gehen die Menschen auf die Straße. Und es gebe dabei keine Hauptstimme. An den Demonstrationen beteiligten sich unterschiedliche lokale Bündnisse, die heterogen seien.
Den Grund dafür sieht Sydiq darin, dass die Correctiv-Recherche über das hinausgehe, was bisher von der AfD bekannt war. "Konkret die Formulierungen zu Deportationen, das war etwas Neues. Dass es auch tatsächlich um Menschen geht, die in der dritten, vierten Generation vielleicht in Deutschland mit deutscher Staatsbürgerschaft leben. Aber dass es auch um politische Gegner gehen soll, die aus Deutschland hinausbewegt werden sollen. Da sind plötzlich alle betroffen, die nicht im Lager der AfD stehen oder die sich nicht rechtsextremen Ideen zugehörig fühlen, und das sind einfach auch in Deutschland extrem viele."
Viele weitere Demonstrationen im Norden geplant
Wie nachhaltig der Aufschrei letztlich sein kann, dazu kann der Protestforscher keine Prognose abgeben, dazu sei die Bewegung noch zu frisch. Fakt ist, dass für die kommenden Tage sehr viele weitere Demonstrationen geplant sind.
In Hamburg ruft für diesen Freitag ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Kulturschaffenden, Wirtschaftsverbänden und Vereinen zu einer Großkundgebung gegen "Rechtsextremismus und neonazistische Netzwerke auf". Auch in Kiel wird demonstriert. Am Sonnabend wollen sich Protestierende in Hannover auf dem Opernplatz, in Braunschweig auf dem Schlossplatz in Flensburg und in Lübeck versammeln. In zahlreichen weiteren Städten im Norden sind am Wochenende Aktionen gegen Rassismus, Ausgrenzung und Hass angekündigt. In Wilhelmshaven haben die Organisatoren ihren Protest mit dem Zitat der 102 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer überschrieben: "So hat es damals auch angefangen".