Documenta 15: "Keine Sensibilität für das Thema Antisemitismus"
Ein Gremium aus sieben Wissenschaftler*innen hat den Antisemitismus-Skandal um die documenta untersucht. Nun ist der Abschlussbericht veröffentlicht worden. Ein Gespräch mit der Untersuchungsleiterin Nicole Deitelhoff.
Unter der Leitung der Frankfurter Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff sollten die Expert*innen die fraglichen Werke, die für den Skandal gesorgt haben, auf antisemitische Botschaften prüfen, den Umgang der Verantwortlichen analysieren und Empfehlungen aussprechen und so bei der Aufarbeitung des Skandals helfen.
Frau Deitelhoff, was ist die Erkenntnis Ihrer Untersuchung? Sind diese Antisemitismus-Vorwürfe berechtigt gewesen?
Nicole Deitelhoff: Ja, das müssen wir leider in aller Deutlichkeit so bestätigen. Es gab weitere Werke, in denen es zumindest sehr stark antizionistische Elemente gab, die man teilweise, wenn man sich bestimmte Merkmale beziehungsweise den Kontext der Ausstellung anschaut, auch antisemitisch lesen kann, aber nicht zwingend muss. Da differenzieren wir sehr genau in unserem Bericht.
Welche Kunstwerke betrifft das genau?
Deitelhoff: Es geht um die Kunstwerke "People's Justice" von Taring Padi, um "Guernica Gaza", um die Film-Kompilation "Tokyo Reels" und um "Archives des luttes des femmes en Algérie".
Hätten diese Kunstwerke Ihrer Ansicht nach nie gezeigt werden dürfen? Oder hätte man sie besser erklären oder kontextualisieren können?
Deitelhoff: Genau, ich glaube, das ist das Wesentliche. Kunstwerke haben ganz häufig auch diskriminierende Codes enthalten - das war schon immer so. Es geht darum, zu prüfen, ob es problematische Inhalte oder Kontexte von Werken gibt, und dann zu überlegen, wie man damit umgeht, wie man sie präsentieren und ausstellen kann. Man kann Kontextualisierung oder Verdeckung anbringen, man kann aber auch öffentliche Veranstaltungen im Kontext von solchen Werken vornehmen, um sie dann dennoch ausstellen zu können. Nichts von dem, was wir gesagt haben, geht unbedingt mit einem Ausstellungsverbot einher, sondern es geht eher darum, wie man etwas präsentieren kann.
Von vielen Seiten wurde im Zuge dieses Skandals Kritik an der documenta-Leitung geübt. Der Rücktritt der documenta-Direktorin Sabine Schormann war die Folge. Zu welchem Schluss sind Sie bei Ihrer Aufarbeitung gekommen? Hat die Leitung sich falsch verhalten?
Deitelhoff: Die Leitung hat zumindest ein extrem passives Verständnis an den Tag gelegt, was ihre eigene Rolle und Verantwortung in der documenta gGmbH und für die Ausstellung ist. Das war sowohl beim Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz der Fall als auch bei seiner Vorgängerin Sabine Schormann. Man hat sich vor allen Dingen für die kaufmännischen Belange der documenta-Ausstellung verantwortlich gesehen. Wenn es aber zu solchen Problemen kam wie hier, dann fühlte man sich nicht verantwortlich, das zu behandeln, sondern hat das alles auf die Kunstfreiheit der jeweiligen künstlerischen Leitung geschoben.
Zusätzlich gab es auch deutliche Kritik an der Organisation der Ausstellenden Ruangrupa und Taring Padi, deren kollektive Idee von Kunst letztlich aber dazu geführt hat, dass niemand verantwortlich zu sein schien. Würden Sie sagen, dass die documenta mit dieser Idee gescheitert ist?
Deitelhoff: Ich weiß nicht, ob die documenta mit dieser Idee gescheitert ist. Künstlerkollektive sind keine Erfindung der documenta fifteen - die haben wir schon immer gesehen. Sie sind momentan vielleicht wieder im Trend, auch die Idee der Dezentralisierung, der Machtabgabe, also das, wofür Ruangrupa hier ganz stark stand. Das Problem ist eher, dass die documenta gGmbH keine Organisationsstruktur hatte, mit der sie darauf reagieren konnte. Wenn man mit Künstlerkollektiven arbeitet, mit dieser Form von Dezentralisierung, dann muss man zumindest so etwas haben wie zum Beispiel interne Review-Prozesse, sodass die eingeladenen Werke, die ausgestellt werden sollen, auf problematische Kontexte und Inhalte geprüft werden und man dann gemeinsam überlegt, wie man das präsentieren kann. Das alles gab es nicht.
Sie haben mit Ihrem Expert*innen-Gremium nicht nur analysiert, was da passiert ist, sondern Sie wollen auch in die Zukunft schauen. Sie haben verschiedene Empfehlung ausgegeben, welche Konsequenzen aus diesen Vorfällen zu ziehen sind. Welche sind das genau?
Deitelhoff: Ich werde es ganz kurz machen und hoffe, dass alle Zeit haben, in den Bericht zu schauen:
Zum einen ist uns aufgefallen, dass es innerhalb der documenta gGmbH überhaupt keine Sensibilität für das Thema Antisemitismus gab und auch kein Verständnis dafür, dass es vielleicht Definitionen von Antisemitismus gibt, mit denen man sich beschäftigen könnte. Das muss anders werden. Es muss zukünftig Raum für Schulungen und Fortbildungen in diesen Bereichen geben; es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir mit dem Problem konfrontiert sind.
Die Geschäftsführung muss mehr und offensiver Verantwortung dafür übernehmen, dass es nicht zu solchen Fehlleistungen kommt. Am besten müssen schon in die Verträge mit künstlerischen Leitungen Konfliktverfahren hineingeschrieben werden, wer welche Handhabe im Konfliktfall hat.
Findungskommissionen, die eine künstlerische Leitung aussuchen, dürfen danach nicht als Beratungsgremium bei Konflikten aufgewertet werden, denn das entspricht nicht ihrer Rolle und führt zu Fehlentwicklungen.
Schließlich sollte der Bund seine Sitze im Aufsichtsrat wieder einnehmen, und insgesamt sollten mehr Vertreter der Kunstszene im Aufsichtsrat sitzen, um sicherzustellen, dass frisches Blut und neue Perspektiven in die documenta gGmbH kommen, was hoffentlich dazu führt, dass man schneller auf die Dramatik und Virulenz von Problemen aufmerksam werden kann.