Suspendierter Ballettdirektor Goecke: Grenzen zivilisierter Gesellschaft
Der Skandal um den suspendierten Ballettdirektor Marco Goecke Hannover rührt an eine grundsätzliche Frage: Wie stehen Kunst und Kritik zueinander? Wenn die Dinge liegen wie hier, ist die Antwort klar. Ein Kommentar von NDR Kultur-Redakteur Ulrich Kühn.
Zuletzt gibt es für alles Grenzen in einer zivilisierten Gesellschaft. Nicht immer ist dabei leicht zu sagen, wo diese Grenzen verlaufen. Wenn eine Gesellschaft bei Trost ist, wird sie leidenschaftlich kämpfen für die Freiheit der Kunst, die Grenzen müssen da weit gesteckt sein.
Das bedeutet auch, dass Künstlerinnen und Künstler Luft haben müssen, um sich in Freiheit zu entfalten - freier als wir braven Bürgersmenschen, wenn wir bei der Arbeit sind. Zum Dank gibt die Kunst uns dann zurück, was uns oft genug fehlt. Sie sagt: Alles könnte auch anders sein. Schöner. Stimmiger. Gerechter. Das ist das eine.
Kritik kann weh tun: als Spiegel und Korrektiv
Das andere ist die Kritik an der Kunst. Die kann weh tun, klar. Aber sie wird gebraucht: Sie ist Spiegel und Korrektiv, sie ordnet und vermittelt. Dafür braucht Kritik nicht weniger Freiheit als die Kunst selbst. Wo Kunst bis an die Schmerzgrenze geht, darf Kritik schmerzhaft subjektiv sein. Was eine Künstlerin gelungen findet, trifft dann vielleicht auf Unverständnis oder auf Lust an Polemik. Das ist herb für einen Künstler: Er kann verletzt, verzweifelt sein - er darf sich doch nur mit Worten wehren. Was er nicht kann und darf: die Attacke per Gewaltakt kontern. So viel Zivilisation muss sein.
Wiebke Hüster hat als Tanzkritikerin der "F.A.Z." in einem scharfen Text den Choreographen Marco Goecke kritisiert. Sie hat seine Uraufführung "In the Dutch Mountain" am Nederlans Dans Theater in Den Haag "sinnlos" genannt und als "Blamage" und "Frechheit" bezeichnet.
Auch für Genies gelten Grenzen
Man könnte Mitgefühl haben mit einem gekränkten Künstler, der um sein gutes Standing fürchtet. Man könnte ihm zugestehen, die Schmerzgrenze sei überschritten, weil ihn, wie er findet, die Kritikerin schon lange piesackt. Doch solche Konjunktive helfen nicht weiter. Keinen Millimeter. Ein Künstler mag noch so genial, noch so missverstanden sein: Nichts und niemand gibt ihm das Recht, seiner Kritikerin Hundekot ins Gesicht zu schmieren. Unter keinen Umständen. Nie.
Marco Goecke scheint das nicht zu verstehen. Auf Instagram hat er am Montag verkündet: "Nach 20 Jahren diese Scheisse lesen war das Maas voll!!" Steht da mit allem, was dazu gehört, wenn man sich austobt auf Social Media, Rechtschreibfehler inklusive. Doppel-Ausrufezeichen auch.
Vielleicht handelt diese Ekelgeschichte also gar nicht nur von Kunst und Kritik. Vielleicht handelt sie auch davon, wie eine Gesellschaft des Shitstorms letzte Grenzen übertritt. Jetzt wird materiell, was bisher nur Metapher war. Zum Heulen, dass sich das zuerst im Reich der Kunst ereignet. Abstoßend und kaum verständlich, dass sich ein Ballettdirektor so kläglich für seinen Posten disqualifiziert. Unumgänglich, dass er suspendiert worden ist. Und traurig, dass die ganze Geschichte am Staatstheater Hannover spielt, diesem hoch respektablen Haus. Als Merkposten für alle bleibt: Es gibt zuletzt doch für alles Grenzen in der zivilisierten Gesellschaft. Nicht nur im wirklichen Leben. Auch im wirklichen Leben der Kunst.