Theater Lübeck: "Das Publikum soll sich selbst entdecken"
Die Direktoren des Theaters Lübeck schreiben darüber, wie sich das Theater für alle öffnet und wie das Publikum sich selbst entdecken kann - in den Emotionen auf der Opernbühne und im Lübeckbezug im Schauspiel.
Am Theater Lübeck ist die Leitung auf drei Schultern verteilt - nach Verantwortungsbereichen. Daraus resultiert das Modell des Direktoriums, das seit 2007 aus einem Geschäftsführenden Theaterdirektor, einem Opern- und Generalmusikdirektor und einem Schauspieldirektor besteht. Hier kommen alle drei zu Wort.
Caspar Sawade, Geschäftsführender Theaterdirektor: "Theater soll Reibung erzeugen"
Ich möchte die Frage nach der Relevanz des Theaters in der Gesellschaft übergeordnet beantworten: Theater ist relevant, wenn es in der Gesellschaft emotionale und intellektuelle Reibung erzeugt. Reibung mit Trends, Themen, Nöten, Hoffnungen und Träumen der Zuschauenden der Stadtgesellschaft. Diese Reibung, kann freudig, nachdenklich oder auch intellektueller Natur sein. In einem guten Spielplan einer mittelgroßen Stadt wie Lübeck finden sich meiner Auffassung nach auch mehrere Facetten des heutigen Lebens. Dies erfordert Anstrengungen, verschiedene gesellschaftliche Schichten kennenzulernen, zu verstehen und das Theater zu öffnen.
Stefan Vladar, Opern- und Generalmusikdirektor: "Wir entdecken uns selbst auf der Bühne wieder"
Warum kann Musiktheater auch heute noch Menschen auf diese einzigartige Weise betreffen? Diese Frage stellt man sich immer wieder. Was geschieht mit uns, wenn auf der Bühne gesungen wird und im Orchestergraben gespielt wird? Das Einzigartige der Oper besteht darin, dass Musik durch den Gesang geradezu Träger des Geschehens wird. Und dass Musik in der Lage ist, Gefühlszustände in uns Menschen auszulösen, uns glücklich, verstört, gerührt oder betroffen zu machen.
Musik ist der Schlüssel zur emotionalen Pforte des Publikums. Ich denke, dass dadurch die Durchlässigkeit erreicht wird, die es ermöglicht, dass uns all die Themen auf der Bühne wirklich betreffen: Macht und Eifersucht, Grausamkeit und Liebe, Vertrauen und Betrug, Glück und Tod, Ohnmacht und Selbstüberschätzung.
All das existiert in allen Bereichen des Lebens. Aus diesen und vielen anderen menschlichen Zutaten sind die Rezepte der Welt in Gesellschaft, Politik, Familie und eben auch in der Oper komponiert. Wir entdecken letztlich uns selbst auf der Bühne wieder, reflektieren nicht mehr nur über Onegin und Tatiana, Faust und Margarete, Elektra und Klytämnestra, Marie und Tonio, Rodolfo und Mimì, sondern über unser eigenes Leben, über unsere Realitäten, Ängste und Sorgen, sowie über gesellschaftliche Zustände, die sich ja am Ende auch auf die eine oder andere Art auf die vorhin genannten Begriffe zurückführen lassen. Die Relevanz des Musiktheaters speist sich nach meinem Dafürhalten gerade aus dieser Tatsache. Es stellt keine Thesen auf, gibt keine Antworten und postuliert keine Wahrheiten, es regt aber auf diese einzigartige emotionale Weise dazu an, uns selbst Fragen zu stellen und Haltungen zu entwickeln.
Malte C. Lachmann, Schauspieldirektor: "Breites Spektrum an Formen und Inhalten"
Als Schauspielsparte an einem Stadttheater ist es uns wichtig, dem Publikum in Lübeck als kultureller Grundversorger ein möglichst breites Spektrum an Formen und Inhalten anzubieten: Von experimenteller Avantgarde bis hin zu Unterhaltungstheater mit Anspruch. Dabei setzen wir in einigen unserer Produktionen auf einen musikalischen Schwerpunkt, um unter anderem Schwellenängste bei denjenigen abzubauen, die bisher noch gar nicht oder erst selten den Weg ins Theater gefunden haben. So arbeiten wir in der aktuellen Spielzeit 2023/2024 zum Beispiel bei den Neuproduktionen "Shockheaded Peter", "Cap Arcona" und "Moby Dick" sowie bei den Wiederaufnahmen "Woyzeck", "The Last Ship", "Die Verwandlung", "Neil Young - Journeys through Past and Future" und "My Hometown" mit einer Live-Band.
Uns interessieren aktuell gesellschaftlich relevante Themen wie zum Beispiel Klimawandel, Gleichberechtigung und die Voraussetzungen und Konsequenzen von Kriegen genauso wie alle grundlegenden Fragen an das menschliche Zusammenleben, wobei wir auf die überzeitliche Qualität der Kulturpraxis "Theater" setzen: Sachverhalte, die Menschen vor Jahrhunderten, teilweise sogar vor Jahrtausenden umgetrieben haben, beschäftigen uns heute immer noch. Indem wir sie auf der Bühne verarbeiten, schaffen wir eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung.
"Stadtraumprojekte" mit Lübeckbezug
In einigen Projekten suchen wir einen konkreten Lübeckbezug - eine Vorgehensweise, die in der vergangenen Spielzeit auf großen Zuspruch bei den Lübecker:innen wie auch bei unserem auswärtigen Publikum gestoßen ist. In der gerade anbrechenden Saison wird das unter anderem im theatralen Spektakel "Cap Arcona" passieren, das sich mit Erinnerungskultur auseinandersetzen wird, oder im Rechercheprojekt "Hafenstraße", das sich mit dem Brandanschlag auf eine Asylbewerber:innen-Unterbringung beschäftigt. Diesen Bezug führen wir in sogenannten Stadtraumprojekten weiter, in denen wir an besonderen Orten außer Haus spielen: "Letzte Lieder" wird an einem Ort der Sepulkralkultur stattfinden und "Moby Dick" vor einem echten Walskelett des Museums für Natur und Umwelt im Domhof zur Premiere kommen. Schauspiel kann wie kaum eine andere Kunstform die Auseinandersetzung mit dem Publikum und seiner Alltagsrealität an einem spezifischen Ort lebendig werden lassen: Eine Inszenierung in Düsseldorf wird nicht nur anders rezipiert als in Lübeck, sie wird im besten Fall auch anders aussehen, weil sie - völlig unabhängig von Form und Inhalt - dort andockt, wo die Menschen gerade in ihrem Leben stehen.