Angstbilder und Krisen: Theater starten in neue Spielzeit
Welche großem Themenschwerpunkte zeichnen sich für die neue Spielzeit an den Theatern im Norden ab? Viele Häuser beschäftigen die aktuellen Krisen und setzen auf Themen mit Lokalbezug.
Das Schauspiel Hannover blickt in dieser Spielzeit auf die Fragilität des Menschen, auf seine Offenheit und Resilienz im Angesicht der gegenwärtigen Katastrophennachrichten, erläutert Intendantin Sonja Anders: "Wie reagieren wir auf Gewalt, auf Kränkung oder Ungerechtigkeit? Was stabilisiert, was zerstört unseren Zusammenhalt?" Dabei erzähle die Uraufführung von Michel Friedmans "Fremd" etwa von der Suche nach Zugehörigkeit und fragt, wie ein "Wir" aussehen könnte, das für alle zugänglich ist. Und auch "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry suche in einem materialistisch ausgerichteten Universum nach der Verbindung zwischen Erkennen und Lieben, führt Anders aus. So könne das Publikum mit Shakespeares "Richard III." einen Charakter erleben, dessen Kalkül und Machtstrategien verblüffend heutig erscheinen. Umso wichtiger sei es, Gerechtigkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, wie es zum Beispiel Sivan Ben Yishais neue Version von Ibsens "Nora" oder Suzie Millers "Prima Facie" tun.
Theater Lübeck setzt sich mit Angstbildern auseinander
Das Theater Lübeck freut sich zurzeit besonders auf die beiden Eröffnungsproduktionen im Schauspiel: In "Shockheaded Peter" geht es um die Frage, mit welchen Angstbildern wir uns und unsere Kinder konfrontieren - das alles mit dem britischen Humor und der Musik der Tiger Lillies, heißt es auf Nachfrage von NDR Kultur. Dabei spielen auch zukünftige Angstbilder eine große Rolle: Denn am Bühnenbild wurde unter Einbeziehung einer künstlichen Intelligenz erzeugt, die die Struwwelpetergeschichten bildlich umgesetzt hat. Im Großen Haus steht Oscar Wildes klassische Komödie "Bunbury" in den Startlöchern: dort beschäftige sich Cilli Drexel mit der sozialen Rolle, die alle Menschen in unterschiedlichen Situationen im Alltag spielen und die die Charaktere in "The Importance of Being Earnest" (so der Originaltitel) dazu bringt, am Ende nicht mehr zu wissen, wer sie selbst eigentlich sind.
Lübeck-Bezug steht wieder im Fokus
Auch für die neue Spielzeit wird der Lübeck-Bezug wieder wichtig sein: "Wir freuen uns, mit Schorsch Kamerun einen Star der Regie-Szene gewonnen zu haben, der ganz nebenbei auch noch aus der Gemeinde Timmendorfer Strand stammt.", teilt Sprecherin Julia Voije mit. Er habe über die am Timmendorfer Strand Ende des zweiten Weltkriegs gesunkene "Cap Arcona" ein Riesenspektakel mit Band und Schauspieler:innen für die große Bühne entwickelt. Auch Helge Schmidt, der für seine Dokumentartheaterarbeiten den deutschen Theaterpreis "Der Faust" gewonnen hat, ist schon seit Langem in Lübeck unterwegs und recherchiert zum Brandanschlag auf eine Asylbewerber:innenwohnheim in der "Hafenstraße". Außerdem kehre mit Pit Holzwarth ein alter Stadtbekannter zurück: Der ehemalige Schauspieldirektor wird in den Kammerspielen "Platonow" inszenieren. Was ebenfalls viele Lübecker:innen freuen dürfte: die beliebten Stadtraumprojekte werden weitergeführt: "Letzte Lieder" wird das Theater Lübeck an einen Ort der Sepulchralkultur in der Stadt führen und das große Freilichtprojekt zum Ende der Spielzeit "Moby Dick" wird vor dem Walfischskelett im Innenhof des Museums für Natur und Umwelt - dem Domhof - stattfinden.
Musiktheater stellt das Verhältnis zu Russland in den Fokus
Im Musiktheater steht in der neuen Spielzeit das Verhältnis zu Russland und zur russischen Kultur im Fokus, weshalb gleich zu Beginn der Spielzeit zwei russische Klassiker, die Oper "Eugen Onegin" von Pjotr Tschaikowsky (nach Puschkin) und das Ballett "Cinderella" von Sergej Prokofjew, für den Spielplan ausgewählt wurden. In einer Zeit, in der in vielen Bereichen (Ökonomie, Wissenschaften, Städtepartnerschaften etc.) die Verbindungen Westeuropas zu Russland gestört, wenn nicht gar ganz abgebrochen sind, scheint dem Theater Lübeck die Beschäftigung mit der russischen Geschichte und Tradition umso mehr von hoher Relevanz zu sein, heißt es zur Begründung. Im Musiktheater werden die großen Fragen der Gegenwart häufig im Spiegel von jahrtausendealten Mythen verhandelt. "Faust" von Gounod (nach Goethe) und "Elektra" von Richard Strauss mit Text von Hugo von Hofmannsthal nach Sophokles thematisieren sämtliche existenzielle Fragen, die sich Menschen in Krisenzeiten stellen. Auch in Lübeck wird also der Umgang mit Krisenzeiten verhandelt.
Frage nach Gewalt und Rache als Conditio Humana
Dabei werde unter anderem die Frage behandelt, in welchem Verhältnis Gewalt und Rache stehen und wie der Teufelskreis aus beidem durchbrochen werden könnte (so in "Elektra"), bzw. wie der innere Zusammenhang von erotischem Begehren und tödlichem Egoismus ist (so in "Faust"). In beiden Stücken gehe es zentral auch um Aspekte von Militär, Krieg und Destruktion einerseits, Sehnsucht nach Frieden andererseits. So sei alles, was das Haus hinsichtlich des aktuellen Kriegs in der Ukraine beschäftigt, bereits in diesen klassischen Werken angelegt und reflektiert. In anderer ästhetischer Form und auf durchaus unterhaltsame, aber nicht minder ernsthafte Weise, stelle sich die Frage nach Gewalt und Rache als Conditio Humana auch in dem Musical "Sweeney Todd" von Stephen Sondheim, das in dieser Spielzeit erstmals in Lübeck präsentiert wird. Die komische Oper "Die Regimentstochter" von Donizetti begegne dem Militärischen dagegen mit subversivem und anarchischem Witz, mit dem Ziel, militaristischen Ungeist zu zersetzen.
Braunschweig: "Fühlst Du mein Herz schlagen?"
Das Staatstheater Braunschweig hat den Leitspruch "Fühlst Du mein Herz schlagen?" zum Motto der Spielzeit auserkoren. Die neue Spielzeit konzentriere sich in fast allen Produktionen auf die große emotionale Kraft des Theaters und der Musik. Das Publikum des Schauspiels sei dazu eingeladen, sich auf eine ästhetische Entdeckungsreise zu begeben und die Sinne zu schärfen. Den Auftakt dazu macht Nino Haratischwilis Roman "Das mangelnde Licht", ein Ausflug in die gewaltvolle georgische Geschichte und gleichzeitig ein kraftvolles Plädoyer für die Freundschaft. Nach dem großen "Ring"-Projekt in der vergangenen Spielzeit setze das Haus außerdem die spartenübergreifenden Projekte fort, zu sehen sind dabei "Körperfestung / Herzog Blaubarts Burg" nach Béla Bartók (Tanz und Musiktheater), "Koma" von Georg Friedrich Haas (Musiktheater mit Schauspieler:innen) und die beliebte "Carmina Burana" von Carl Orff (Tanz, Orchester und Musiktheater). Das mache so konsequent kein Mehr-Sparten-Haus in Deutschland, betont Sprecher Johannes Ehmann: "Dabei entstehen unglaublich dynamische Kooperationen innerhalb eines Theaters und zwischen den Abteilungen, die sehr spannende Ergebnisse bringen!"
Auch Braunschweig setzt auf lokalen Content mit Mädchenmörder-Geschichte
Ein besonderes Jubiläum steht auch für das "JUNGE! Staatstheater" an, das als Sparte für Kinder- und Jugendtheater vor 40 Jahren gegründet wurde. Das werde unter anderem mit der Weihnachtsproduktion: "Das doppelte Lottchen" nach Erich Kästner gefeiert. Und auch regionale Bezüge scheinen in Braunschweig hoch im Kurs zu stehen: Bernhard Mikeskas "Mädchenmörder :: Brunke - Eine VR-Inszenierung mit Thomas Brasch" erzählt die Geschichte des deutschen Mädchenmörders Karl Brunke. Er wurde 1887 in Braunschweig geboren und starb auch 1906 dort. Er war die zentrale Figur eines Verbrechens im Jahr 1905, das wegen seiner psychologischen Verwicklungen in die Kriminalgeschichte einging.
Neustart in Hamburg und Wechsel in Oldenburg
An Alma Hoppes Luststpielhaus in Hamburg stehen vor allem gerade zwei Fragen im Fokus: Wie geht es weiter bzw. geht es weiter mit Förderungen für Kultur? Und: Wie läuft der Neustart nach Umbau/Renovierung. Bereits Premiere gefeiert hat die neue Hausproduktion von Jan-Peter Petersen: "zu spät ist nie zu früh" - dabei widmet sich der Schauspieler und Autor in gewohnter Manier Polit-Skandalen, Affären und peinlichen Alltagssituationen. Im Dezember soll mit "Das Ende vom Anfang" von Alma Hoppe 3.0 die zweite Hausproduktion der Spielzeit Premiere feiern. Am Oldenburgischen Staatstheater stehen die Zeichen dagegen in dieser Saison auf Wechsel. Denn es wird die zehnte und letzte Spielzeit unter Generalintendant Christian Firmbach. Auf der Agenda daher: viele Wiederaufnahmen zum Abschied, Kolleg:innen, die weiterziehen und Vorbereitungen auf die Zeit mit Georg Heckel ab August 2024.
Theater Vorpommern geht mit dem Motto "Licht" ins Caspar-David-Friedrich-Jahr
Das Theater Vorpommern stellt die neue Spielzeit passend zum anstehenden 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich im kommenden Jahr unter das Motto "Licht!". Immer wieder war das Haus in den letzten Monaten in den Schlagzeilen. Am Standort Greifswald ist das Große Haus wegen dringend notwendiger Sanierung geschlossen, im Winter strich die Stadt das als Ersatzspielstätte geplante Theaterzelt, im Juni trat Intendant Ralf Dörnen zurück. Nun kann zur Überbrückung im Kaisersaal der Greifswalder Stadthalle gespielt werden: "Licht am Ende des Tunnels" für Schauspieldirektorin Uta Koschel.