"Noch wach?" am Thalia Theater: Zu viel Ehrfurcht, zu wenig Mut
Schon im Vorfeld war von "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre als Schlüsselroman über den Springer-Konzern, Machtmissbrauch und #MeToo die Rede. Im Hamburger Thalia Theater feierte die Bühnenversion am Freitag Premiere.
Natürlich war auch Benjamin von Stuckrad-Barre gekommen. Am Ende umarmte er freudestrahlend den Regisseur Christopher Rüping, während sich in den Applaus aus dem Parkett ein paar vereinzelte "Buhs" mischten. Doch Stuckrad-Barre kann zufrieden sein: Rüping und sein Ensemble folgen weitgehend der Romanvorlage. Gestrichen werden musste natürlich - aber sonst: ein Anfang, wie er im Buche steht.
"Du bist jetzt immer dabei. Das ging schnell, du bist ja noch in der Ausbildung." Bühnenzitat
...findet die junge Frau - eine von vielen, die vom Chefredakteur des krawalligen Fernsehsenders "aufgefangen" wird, unterstützt, gerne auch nachts:
"Noch wach? Scheiß Klimaanlage. Komm und wärm mich. Starke Vermissung!" Bühnenzitat
"Noch wach?": Über #MeToo und schmutzigen Boulevardjournalismus
Was Rüping anders macht als im Roman: Nicht ein gerne mit Stuckrad-Barre gleichgesetzter Erzähler kommt hier zu Wort, sondern mehrere Männer und Frauen. So wird die rein männliche Perspektive aufgebrochen. Plötzlich ist es eine Frau, die dem mächtigen Boss des Fernsehsenders, einem engen Freund des Erzählers, die Leviten liest:
"Ihr labert doch immer von Frauen in Führungspositionen. Aber die Wahrheit bei euch im Sender scheint zu sein: Führungskräfte in Frauen." Bühnenzitat
Es geht um #MeToo und schmutzigen Boulevardjournalismus, den Weinstein-Skandal und eine Männerfreundschaft, die an all dem zerbricht. Bühnenbildner Peter Baur hat für diese mörderische Geschichte eine Vampirkulisse entworfen: Neben einen düsteren Schlossturm stellt er Särge, und der Firmenboss tritt tatsächlich auch mal mit Blutsaugergebiss auf.
Wenig Mut und wenig Tiefgang
Rüping inszeniert plakativ, mit viel Livemusik. Das passt zu Stil und Tempo des Romans. Die frech-schnoddrige Sprache Stuckrad-Barres funktioniert gut, zumal das Ensemble zum Niederknien spielt. Doch mehr (literarischen) Tiefgang zaubert auch Rüping nicht in die Story. Man möchte ihm weniger Ehrfurcht wünschen, mehr Mut, vielleicht schriller, überspitzter zu inszenieren, diesen Stoff der Stunde:
"Eine Frau zu sein, das ist karrieremäßig ein Nachteil, aber es gibt eben diese höchstens 15 Jahre, knapp 20 bis Anfang 30, da hat der Sexismus auch ein paar Vorteile. Gut aussehen, lächeln, drüber wegkommen, einsacken, was du kriegen kannst. Kotzt mich das an? Klar kotzt mich das an." Bühnenzitat
Ein Abend mit Längen, aber einem großartigen Ensemble
Es gibt großartige Szenen: mit Maike Knirsch als cooler Sophia - sie lässt sich nicht unterkriegen -, mit Hans Löw als Konzernboss. Selbst im Vampir-Outfit strahlt er noch Würde und Gelassenheit aus und verbirgt die Brutalität seiner Entscheidungen gekonnt hinter unaufgeregten Sätzen. Ein tolles Ensemble, das dennoch nicht über Längen des Abends hinwegspielen kann.
Hier und da gibt es kleine Spitzen, da reichelt es dann - in Anspielung auf den entlassenen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt -, aber insgesamt sucht Rüping brav das Beispielhafte der Geschichte herauszustellen. Da erweist sich die aufgesplitterte Erzählperspektive nicht durchgängig als hilfreich - und etwas seltsam wirkt es schon, wenn sich am Ende des Abends auf der Bühne wieder zwei Männer umarmen.