Ohnsorg Theater Hamburg: Plattdeutsch am Puls der Zeit - ein Essay
Das Ohnsorg Theater ist bereits seit mehr als 100 Jahren in Hamburg etabliert mit Vorstellungen größtenteils auf Plattdeutsch. Wo kommt es her und wo will es hin? Ein Essay des Intendanten Michael Lang.
Das Ohnsorg Theater sieht sich fortwährend am Puls der Zeit. Und auch das gehört zur Tradition des Hauses. So waren die vielerorts durch die TV-Ausstrahlungen des NDR-Fernsehens bekannten Volksstücke in der Zeit ihres Entstehen unterhaltsame Studien der jeweiligen Milieus der breiten Gesellschaft, mit Fokus vor allem auf die so genannten "kleinen Leute" bi uns in’n Noorden, deren Freude, Sorgen, Nöte, Träume, Sehnsüchte - verkörpert von Schauspieler_innen, meist "Typen", mit denen sich die Menschen identifizieren konnten. Die Sprache des Volkes im Norden war vielfach noch Plattdeutsch, weshalb die Stücke besonders authentisch wirkten. Zwar wurden die Stücke wegen der bundesweiten Verständlichkeit durch den NDR vornehmlich mit einem norddeutsch eingefärbtem Hochdeutsch aufgezeichnet, doch so manche Produktion wurde zu echten und unvergesslichen Klassikern, "Tratsch im Treppenhaus" steht auch heute noch ganz an der Spitze.
Ohnsorg Theater öffnet sich nachwachsendem Publikum
Ein norddeutsches Volkstheater wäre kein Volkstheater, wenn es sich nicht im gleichen Maße weiterentwickeln würde wie das Volk, die Menschen, die hier leben, und die gesellschaftlichen Milieus unserer Zeit. Mit all ihrer Vielfalt, Vielschichtigkeit, Vielfarbigkeit, ihren Eigenheiten, Widersprüchen. Inhaltlich, ästhetisch, formal, auch sprachlich und in Bezug auf die "Gesichter" auf und hinter der Bühne – ohne die Wurzeln und Herkunft des Theaters zu verleugnen. Plattdeutsch wird im Ohnsorg immer eine Hauptrolle spielen, gleichzeitig werden wir es uns nicht gemütlich machen dürfen in der Nische, sondern uns dem nachwachsenden Publikum weiter öffnen müssen, es neugierig machen auf unsere regionalen "Spezialitäten" und die Identitäten des Nordens. Mit umfangreichen Vermittlungs-Angeboten beispielsweise, auch um den "Einstieg" ins Ohnsorg Theater für Jedermann leicht zu machen. Eine Herausforderung, der wir uns bei jeder Produktion von neuem stellen und die wir auch unter diesen Aspekten aussuchen.
Stücke spielen im Hier und Jetzt
Gleichzeitig suchen wir Themen in unseren Stücken, die "das Volk" beschäftigen, oder auch schon immer beschäftigt haben, und in denen die Menschen sich und ihr heutiges Umfeld wiederfinden. Der Zustand unserer Umwelt beispielsweise geht jeden etwas an. So siedelt der Erfolgsautor Sönke Andresen sein nagelneues Stück auf einem Kreuzfahrtschiff an, das auf der Reise zu den letzten Pinguinen ist. An Bord versammelt ist eine bunte Gesellschaft, die aus ganz unterschiedlichen Motiven diese Reise antritt, die in der Abgeschiedenheit aufeinander prallen: Heiter, bewegend, menschelnd, sehr aktuell, scharfzüngig und mit einer Portion Nachdenklichkeit angereichert. Das Ohnsorg zeigt "Der letzte Pinguin" als Uraufführung im Januar/Februar 2024. Aber auch alle anderen Stücke, die wir in dieser Spielzeit auf unseren beiden Bühnen und auch auf externen Spielfeldern zeigen, spielen im Hier und Jetzt oder haben deutliche Bezüge und Verbindungen ins Heute oder behandeln ewig gültige Themen.
Jede Vorstellung ist einmalig
Der große Unterschied, ich will sagen: Das große Plus, was eine Theatervorstellung von fast allen Medienangeboten abgrenzt, ist das Live-Erlebnis. Theater wird von Menschen gemacht, entsteht im Augenblick und immer wieder neu und anders - trotz intensiver Probenarbeit, ist unverwechselbar und fragil. Selbst wenn es das selbe Stück ist, so gleicht keine Vorstellung einer anderen, die Menschen auf der Bühne und im Saal entwickelt jeden Abend eine besondere Energie, eine Beziehung miteinander und zueinander, eine "Bewegung", die immer einmalig und in dieser Form auch nicht wiederholbar ist. Und die gleichermaßen Herz und Verstand anspricht und bei der schon die Verschiebungen von Nuancen unterschiedliche Gefühle auslösen kann.
Live-Erlebnis bleibt Kern des Theaters
Natürlich bereichert ein intelligentes, kurzweiliges digitales Angebot unser künstlerisches Programm, im Kern bleibt unsere Form aber das Live-Erlebnis. Theater als der Ort, wo Menschen sich versammeln, um gemeinsam eine Geschichte zu erleben, die sie bewegt und berührt, die sie "etwas angeht". Die sie mitunter auch kontrovers betrachten. "Kultur ist, wie wir leben", sagte einmal Daniel Barenboim. Und die Theater sind Orte, wo wir die Fragen unseres Lebens miteinander verhandeln, reflektieren und ausloten. Wo wir den Finger in offene Wunden unserer Gesellschaft stecken können, wo es aber ebenso zulässig ist, für zwei Stunden die Sorgen des Alltags an der Garderobe abzugeben und sich dem freien Spiel der Gefühle hinzugeben.
Debatten entfachen und die Seele streicheln
Gerade auch deswegen ist Theater in schwierigen Zeiten unverzichtbar, es kann ablenken, die Seele streicheln, es kann aber ebenso Debatten entfachen, Themen der Zeit kontrovers beleuchten, Haltungen hinterfragen und eine Stütze unseres demokratischen Diskurses bilden. Eben die ganze intellektuelle und emotionale Bandbreite ansprechen, die ein Mensch in sich trägt und mit der er täglich lebt. Und dank der großen Vielfalt des Programms gilt das im Ohnsorg für Menschen jedweden Alters und jedweder Herkunft.