"Die Welt als veränderbar zeigen": Theaterintendantin Schlingmann
Dagmar Schlingmann sieht im Theater das Potenzial, Menschen zu zeigen, dass sie ihre Realität gestalten können. Die Intendantin des Staatstheaters Braunschweig setzt auf neue Themen und innovative Theaterformate - ein Essay.
Das Theater und der Film sind vielleicht die beiden Kunstformen, die am direktesten eine Verbindung zu den Realitäten der Menschen herstellen können. Das Theater hat dabei aus meiner Sicht den Vorteil, live zu sein. Es stellt einen direkten Austausch zwischen Bühne und Zuschauerraum her, wir Macher:innen erleben das jeden Abend: Das Zuschauerkollektiv gestaltet den Abend durch seine Reaktionen mit. Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Bühnengeschehen und Auditorium. Dabei ist es interessant, dass unser Publikum keine in sich homogene Gruppe bildet, sondern sich zunehmend divers zusammensetzt. Das gemeinsame Erlebnis der Theateraufführung kann die unterschiedlichsten Menschen miteinander verbinden. Lachen steckt an, aber auch das Berührtsein, die Empörung etc..
Scheinbar Selbstverständliches neu in den Fokus rücken
Ein großes Verdienst des Theaters wie jeder Kunst ist, dass neue Perspektiven eröffnet werden können. Wir laden die Zuschauenden dazu ein, ihre Wirklichkeit einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Indem wir scheinbar Selbstverständliches neu in den Fokus rücken, indem wir überraschen mit Wendungen, die nicht erwartbar sind, indem wir unsere Realität durch Surreales verfremden, indem wir Utopien zeigen, indem wir unter der Oberfläche graben und Dunkles zu Tage fördern, können wir behaupten, dass die Welt nicht unbedingt so sein muss, wie sie sich uns in der Alltagsrealität darstellt. Das Theater kann die Welt als eine veränderbare zeigen und manchmal dazu auffordern, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und Missstände nicht als Gesetzmäßigkeit hinzunehmen.
Menschen zum Austausch animieren
Es gibt nicht viele Orte in unserer Gesellschaft, an denen sich Menschen aus unterschiedlichen Blasen treffen. Neben dem Sport und dem Kino spielt auch hier das Theater eine wichtige Rolle. Durch den oben beschriebenen Perspektivwechsel können wir Blasen platzen lassen und die Menschen zu einem Austausch animieren. In diesem Sinne leistet das Theater einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer mehr und mehr auseinander fallenden Gesellschaft.
Themen, die unter den Nägeln brennen
Im Staatstheater Braunschweig setzen wir auf einen Spielplan, der das Publikum anspricht, interessiert, anfixt und wollen dies nicht allein durch bekannte Titel bewirken, sondern durch Themen, die uns allen unter den Nägeln brennen. So haben wir mit dem schrägen Road-Movie zum Klimawandel "Garland" und der Romanadaption "Das mangelnde Licht" eröffnet, wo es um die Vergiftung der menschlichen Beziehungen in patriarchalischen Systemen in Kriegszeiten geht. Der Roman spielt in Georgien der 1980/90er-Jahre und erlangt doppelte Aktualität durch Parallelen zum Ukrainekrieg. Daneben behandeln wir eine Vielzahl von politischen Inhalten, wie Antisemitismus in "Wir werden diese Nacht nicht sterben", Kinderrechte in "Das doppelte Lottchen" und die Rolle des Aktionismus oder der Kunst in der Gesellschaft "Den Aufstand proben, Dorian G." - um einige Beispiele zu nennen.
Wir legen dabei besonderen Wert auf die Vernetzung in die Stadt, so arbeiten wir mit zahlreichen Partner:innen zusammen, die unmittelbar an der Entstehung einer Produktion beteiligt sind.
Lust an Innovation
Die Lust an der Innovation zieht sich durch alle Sparten. Bei "Mädchenmörder::Brunke" wird mit Einsatz von VR-Brillen ein hybrider Abend aus analogen und digitalen Elementen kreiert, der ein noch nicht gekanntes Erlebnis bieten wird. Das Stück geht zurück auf eine Braunschweiger Kriminalgeschichte, denn es ist uns wichtig, in unserem Spielplan auch regionale Bezüge herzustellen.
"Party in a Nutshell", das die Rolle des Feierns für unsere Gesellschaft beleuchtet, wurde als immersives, performatives Projekt auf die Bühne gebracht. Im Sinfoniekonzertprogramm "Fanfare for uncommon orchestra" rücken Holz- und Blechblasinstrumente und Schlagzeuge ins Zentrum, einmal ganz ohne Streicher:innen.