St. Pauli Theater: Hamburgs ältestes Privattheater
Als das St. Pauli Theater am 30. Mai 1841 als Urania-Theater eröffnet, ist St. Pauli noch Teil von Hamburgs Vorstadt. Bis heute steht das Theater am selben Fleck und kann auf mehr als 180 Jahre Geschichte zurückblicken.
Der Spielbudenplatz im Jahr 1840: Die hölzernen Buden werden abgerissen, ein neues Theater soll her, aus Stein gebaut, das sich "zur Belustigung des großen Haufens" in die Szene ortsansässiger Amüsierbetriebe fügen soll, wie die Macher es damals formulieren. Am 30. Mai 1841 ist es so weit: St. Pauli bekommt mit dem Urania sein erstes vorzeigbares Theater.
Der Bau des Urania-Theaters gilt als Wagnis. St. Pauli ist damals trotz der Nachbarschaft Altonas eine landnahe Vorstadt. Hier ein florierendes Theater für 1.000 Zuschauer zu bauen, ist eine große Herausforderung für die Macher.
Torsperre hält Besucher aus Hamburg fern
Denn: Bis 1860 gibt es in Hamburg die Torsperre. Die Wallanlagen sind zwar seit 1837 begrünt, doch wer daran vorbei will, muss durch die Tore. Das Tor zu St. Pauli wird um 22 Uhr geschlossen, der Schlüssel dafür liegt nicht etwa unter der Fußmatte. Wer bis dahin nicht zurück in der Stadt ist, muss draußen bleiben. Für den Theater-Betrieb im Arbeiter- und Amüsierviertel St. Pauli ist die Torsperre ein Ärgernis. Die Besucher aus Hamburg bleiben durch die strikte Schließung aus.
Spagat zwischen Anspruch und Klamauk
Gründungsdirektor Schulze versichert dem "hochverehrtem Publicum", dass sein "eifrigstes Bestreben stets nur dahin gerichtet seyn" werde, "durch Aufbietung aller Kräfte, dem neuen Institute einen günstigen Erfolg und eine freundliche Theilnahme zu erringen." Es soll ein Spagat zwischen Anspruch und Klamauk werden, der leider nur ein Jahr lang funktioniert.
Theater-Graf mit leeren Versprechungen
Denn nach dem großen Brand von 1842 hat das Publikum erst einmal keinen Bedarf an Schauspiel. Das Urania-Theater bleibt zwar vom Feuer verschont, steht aber trotzdem vor dem finanziellen Ruin. In größter Not bietet ein bekannter Impresario seine Hilfe an: Der als Theater-Graf bekannte Carl-Friedrich von Hahn-Neuhaus behauptet, über reichlich Mittel zu verfügen, pachtet das Theater und fährt groß auf: Massenstücke mit selten gesehener Kostümvielfalt und aufwendigen Kulissen - hundert Kerzen etwa, die den originalgetreu nachgebildeten Saal des Stockholmer Schlosses beleuchten. Das ist für damalige Verhältnisse geradezu unerhört pompös - für ein Publikum, das sonst nur besseres Bauerntheater am Straßenrand kennt. Alles könnte so schön sein, wenn der Theater-Graf tatsächlich ausreichend Geld hätte. Nur wenige Monate nach seinem Antritt flieht er hoch verschuldet aus der Stadt.
Theater mit eigenen Gesetzen
In den Folgejahren läuft das Theater wieder rentabel - ein Verdienst des langjährigen Direktors Theodor Damm. Er leitet das Haus von 1848 bis 1863. Der Laden brummt, doch intern geht es zu wie im Zuchthaus. Damm ist bekannt für sein strenges Regiment, besonders in Form von eigens für sein Theater erlassenen Gesetzen. Zum Beispiel: "Wer unnützen Scherz auf der Bühne treibt oder einem anderen seine Rolle vorsätzlich oder aus Unachtsamkeit verdirbt, zahlt ein Viertel seiner Monatsgage." Oder: "Alle angestellten ledigen Frauenzimmer und Witwen, welche schwanger werden, haben zu gewärtigen, dass sie an demselben Tage, wo ein solcher Zustand von ihnen zur Kenntnis der Direktion gelangt, ohne weitere Entschädigung sofort entlassen werden." Das Arbeitnehmerrecht ist damals noch ein Fremdwort.
Auf dem Prüüntje-Böhn im späten 19. Jahrhundert
Die Gäste des inzwischen mehrfach umbenannten Varieté-Theaters sind einfache Leute, oft Arbeiter, die nach dem Job in Arbeitsklamotten in die Vorstellungen gehen. Sie stehen dicht gedrängt auf dem Prüüntje-Böhn. Prüüntjes sind Kautabakstücke, die damals sehr beliebt sind. Die Arbeiter pflegen sie fertig gekaut an die Decke des Theaters zu kleben, von wo aus sie wiederum angetrocknet herabfallen, mit Glück auf den Boden, mit weniger Glück ins Haar und mit Pech ins Bier, denn gegessen und getrunken wird im Theater auch.
Hamburger Publikum vom alten Schlag
Um die Jahrhundertwende bietet das Varieté-Theater mal moralisierendes, mal lustiges Volkstheater auf Hamburger Platt, Burlesken und Possen für Seeleute, Hafenarbeiter und Prostituierte, Fischhändler und Straßenverkäufer. Wenn es dem Publikum gefällt, bekommen die Schauspieler statt Blumen eher ein Bier oder einen Räucheraal gereicht. Aber wehe, wenn es dem Publikum nicht gefällt. Die Zuschauer erleben Theater viel emotionaler als heute. Ihnen gerät Fiktion und Wirklichkeit immer wieder durcheinander. Bühnen-Bösewichte müssen damit rechnen, dass ihnen nach der Vorstellung auf der Straße jemand auflauert und sie verprügelt.
Der Sieg über Goethe im Varieté-Theater
Einen kleinen Skandal gibt es bei der Premiere einer zusammengestrichenen Form von Goethes "Faust", die sich auf die Gretchen-Tragödie beschränkt. Das Publikum will es nicht hinnehmen, dass Grete am Ende im Kerker versauert. "Dat is Mumpitz. Heiroten sall he se." Es skandiert im Chor: "Heiroten! Heiroten!" Der Regisseur stellt sich dem Mob auf der Bühne, verweist auf Goethe, kann die Menge aber nicht beruhigen. Es ist erst wieder Ruhe, als die Schauspieler zurückkommen und ein Ende improvisieren, in dem Faust Margarete heiratet.
Die Ära Ernst Druckers
Vor 1879 tingelt der Schauspieler Ernst Drucker mit Komödiantentruppen von Engagement zu Engagement. Doch Drucker ist auf Zack, er arbeitet sich hoch und schon mit 23 Jahren hat er es zum Direktor eines anderen Hamburger Theaters gebracht. 1884 treibt Drucker 230.000 Mark auf und erwirbt kurzerhand das Varieté-Theater.
Sein neues Theater - das er schon bald in Ernst Drucker Theater umbenennt - steht auf einem Staatsgrundstück. Das war bisher kein Problem, doch die Polizei will darauf 1894 ein Verwaltungsgebäude bauen - einen Anbau an die Davidwache nebenan. Ernst Drucker ist nicht nur Theaterkenner, er ist vor allem ein talentierter Geschäftsmann, versteht es Leute, zu beschnacken und wendet den Abriss ab - verpflichtet sich aber, das Haus umfassend zu renovieren. Es sind seine Umbauten, die das St. Pauli Theater bis heute prägen. Drucker stirbt 1918, ausgebrannt mit 62 Jahren.
Die Nazis drängen auf einen neuen Namen
Die Nationalsozialisten haben nichts gegen Druckers Theater: Dort werden Volksstücke gespielt, es gibt fast nie explizit politische Inszenierungen. Allerdings fällt 1941 im Rahmen der Feier zum 100. Jubiläum auf, dass der Namensgeber aus einer jüdischen Familie stammt. Den Nazis ist wichtig, dass der alte Name verschwindet. Noch am Abend der Feier präsentieren die Theatermacher einen neuen, möglichst unanstößigen Namen: St. Pauli Theater. Erst die heutigen Intendanten Thomas Collien und Ulrich Waller entscheiden sich 2005, den Namen Ernst Druckers wieder an die Fassade zu setzen: "St. Pauli Theater - ehemals Ernst Drucker Theater."
Nach dem Krieg alles beim Alten
Nach kurzer kriegsbedingter Spielpause geht es im St. Pauli Theater bereits am 1. August 1945 weiter. Auf dem Programm stehen leichte Volksstücke zu erschwinglichen Preisen. Ab den 1970er-Jahre kommen einige Altstars ans Theater: Freddy Quinn verkauft 1970 schon lange nicht mehr sonderlich viele Platten, ist aber mit dem Musical "Der Junge von St. Pauli" äußerst erfolgreich. Später kommt die Ohnsorg-Legende Henry Vahl dazu und sogar seine langjährige Kollegin Heidi Kabel.
Das Theater erfindet sich neu
Seit den 1980er-Jahren verändert sich das St. Pauli Theater immer mehr. Volksstücke in Mundart weichen mehr und mehr modernem Entertainment: Boulevard-Stücken, Musical-Theater, Comedy und Kabarett. Zunehmend stehen auch ernstere Produktionen auf dem Programm, mit etablierten Größen in den Hauptrollen: Ulrich Tukur, Eva Mattes, Monica Bleibtreu. Peter Zadek inszeniert, Christoph Schlingensief macht Wahlkampf-Performance.
Gala und Umbau zum 175.
Seinen 175. Geburtstag am 30. Mai 2016 feiert das Haus zwar mit einer Gala - allerdings in der Laeiszhalle. Das St. Pauli Theater selbst wird derweil mehrere Monate lang für rund zwei Millionen Euro umfassend renoviert. Seit September 2016 steht der prachtvolle Saal wieder für Theatermacher und Publikum zur Verfügung - von zwischenzeitlichen Corona-bedingten Pausen abgesehen.