NSU ermordet 2001 Süleyman Taşköprü in Hamburg
Am 27. Juni 2001 wurde der Gemüsehändler Süleyman Taşköprü in seinem Laden in Hamburg erschossen. Erst zehn Jahre später stellte sich heraus, dass die rechtsextreme Terrorbande NSU den 31-Jährigen ermordet hat. Warum ausgerechnet ihn?
Mittwoch, 27. Juni 2001: Im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld arbeitet Süleyman Taşköprü in dem Geschäft, das er mit seinem Vater Ali betreibt. Zwischen 10.30 Uhr und 11.30 Uhr ist der Vater unterwegs, um etwas zu besorgen. Als Ali Taşköprü in den Laden in der Schützenstraße zurückkehrt, findet er seinen Sohn blutüberströmt. Süleyman hat schwerste Kopfverletzungen. Der alarmierte Notarzt kann den 31-Jährigen nicht mehr retten.
In der Obduktion wird später festgestellt, dass Taşköprü durch drei Schüsse aus nächster Nähe getötet wurde. Er hinterlässt seine Familie und seine Partnerin mit der gemeinsamen kleinen Tochter.
War die Tat von langer Hand geplant?
Erst nach Jahren wird klar, dass Taşköprü ebenso wie neun weitere Menschen Opfer des rechtsterroristischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) wurde. Doch warum er? War die Tat von langer Hand geplant, möglicherweise mithilfe ortskundiger Unterstützer? Oder wurde Taşköprü, dessen Laden nicht allzu weit von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt war, ohne große Vorbereitung und ohne Hintermänner umgebracht?
Im späteren mehrjährigen Gerichtsprozess in München gegen Beate Zschäpe und die Mitwisser und Helfer der verstorbenen NSU-Haupttäter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hoffen die Angehörigen auf eine Antwort.
Polizei geht lange von kriminellem Hintergrund des Opfers aus
Zurück zum Tag des Mordes in Hamburg: Bevor er seinen Sohn sterbend vorfand, so erzählt es Ali Taşköprü der Polizei, habe er noch zwei Männer auf dem Bürgersteig gesehen, die sich vom Laden entfernten. Taşköprü sagt, er habe zunächst gedacht, es seien Kunden gewesen. Erst später sei ihm klar geworden, dass er wohl die Täter sah. Er beschreibt sie als Deutsche, schlank, etwa 25 bis 30 Jahre alt. Für ein Phantombild reichen seine Angaben damals offenbar nicht. Die Polizei vermutet, dass Süleyman Taşköprü in kriminelle Machenschaften verwickelt und Opfer eines Racheaktes geworden sein könnte. Dass es bei der Tat vielleicht um Geschäfte mit Drogen oder im Rotlichtmilieu ging oder um Schutzgelderpressung.
"Viele haben sich damals von der Familie abgewendet"
"Der Mord hat das Leben dieser Familie zerstört", sagt der Friseurmeister Behçet Algan 13 Jahre später dem NDR. Sein Salon liegt nicht weit vom Tatort entfernt. Algan kennt die Taşköprüs schon lange. Neben der Trauer um den Sohn habe nach der Tat vor allem das Verhalten vieler Nachbarn und Freunde die Familie Taşköprü bitter enttäuscht, sagt Algan. "Erst waren alle geschockt - und als dann in den Zeitungen von Schwarzgeld und Mafia zu lesen war, haben sich die meisten von der Familie abgewendet."
Medien sprechen von "Döner-Morden"
Sechs Jahre nach dem Mord in Hamburg veröffentlicht die Polizei ein Phantombild eines möglichen Zeugen der Tat. Zu dem Zeitpunkt ist bereits klar, dass Taşköprü mit einer Waffe erschossen worden war, die auch bei mehreren weiteren Morden benutzt wurde. Die neun Opfer: allesamt Kleingewerbetreibende, die aus der Türkei oder aus Griechenland stammten. Die Presse betitelt die Mordserie inzwischen als die "Döner-Morde". Für die Familien der Opfer aus Nürnberg, München, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel sind die Ermittlungen eine Demütigung. Immer wieder stellt die Polizei Fragen, die die vermeintlichen kriminellen Verbindungen der Getöteten aufdecken sollen.
NSU-Bande fliegt nach gescheitertem Bankraub auf
Freitag, 4. November 2011: In Eisenach entdecken Polizeibeamte in einem ausgebrannten Wohnmobil die Leichen zweier Männer. Es handelt sich um Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Offenbar hatten sich die beiden nach einem gescheiterten Sparkassen-Überfall zunächst in dem Fahrzeug versteckt. Kurz bevor Polizisten das Mobil stürmen wollten, setzten die beiden es offenkundig in Brand und nahmen sich das Leben.
Am selben Tag kommt es in Zwickau zu einer Explosion in der Wohnung, in der beide Männer gemeinsam mit Beate Zschäpe lebten. In dem Haus werden unter anderem die Tatwaffen der Mordserie an Migranten gefunden. Zschäpe flieht zunächst quer durch Deutschland und verschickt Bekennervideos des NSU, dann stellt sie sich der Polizei. Gegen sie wird Haftbefehl erlassen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Ihre Gruppe, der "Nationalsozialistische Untergrund", so der Vorwurf, verübte jahrelang Sprengstoffanschläge und Morde und beging Raubüberfälle, um das Leben im Untergrund zu finanzieren. Auch der Hamburger Taşköprü war eines der Opfer.
Die Tat in Hamburg: Foto des Mordopfers für NSU-Video
Noch einmal zurück zum Tat-Tag in Hamburg: Laut der Rekonstruktion im NSU-Prozess kommen Mundlos und Böhnhardt damals gegen 11 Uhr in das Geschäft. Aus der später berüchtigten Ceska-Pistole schießt einer der beiden Taşköprü vermutlich zunächst in die linke Wange. Der 31-Jährige fällt mit dem Kopf gegen ein Regal. Dann schießt einer der Täter mit einer anderen Waffe zweimal in Tasköprüs Hinterkopf.
Bevor die beiden den Laden verlassen, machen sie noch ein Foto ihres Opfers. Das Bild taucht später im sogenannten Paulchen-Panther-Video des NSU auf. Das Gericht im NSU-Prozess wertet dieses Foto als einen Beweis dafür, dass Mundlos und Böhnhardt auch den Mord in Hamburg begingen - und dass Zschäpe ihre Mittäterin war. Sie sei zum Tatzeitpunkt in Zwickau gewesen, um ihren Freunden gegebenenfalls ein Alibi zu verschaffen oder - falls der Mordanschlag schief gegangen wäre - ein vorbereitetes Bekennervideo des NSU mit den bisherigen Taten zu veröffentlichen.
"Was wollten sie von meinem Sohn?"
Montag, 23. September 2013: Süleyman Taşköprüs Vater Ali sagt im NSU-Prozess, er sei 1972 nach Deutschland gekommen und habe seine Familie später nachgeholt: "Mein Sohn war 31 Jahre alt, was wollten sie von ihm? Wir sind Menschen, die auf eigenen Füßen stehen. Meine Tochter hatte Geld gespart und ich habe mit diesem Geld das Geschäft gegründet, damit meine Söhne es betreiben sollten. Wir lebten von unserem eigenen Geld, was wollten diese Leute von uns?"
Beate Zschäpe behauptet im Verlauf der Verhandlung, dass sie nicht wisse, wie und warum Mundlos und Böhnhardt ihre Opfer auswählten - überhaupt habe sie von deren Taten lange keine Kenntnis gehabt. Das sieht das Gericht anders - die drei hätten die Taten gemeinsam geplant, heißt es später im Urteil.
Tasköprüstraße erinnert an Hamburger NSU-Opfer
Donnerstag, 26. Juni 2014: In Hamburg wird zur Erinnerung an Süleyman Taşköprü ein Straßenstück nach ihm benannt. An der Einweihung der Tasköprüstraße nehmen Angehörige des Ermordeten teil und Politik-Prominenz wie der damalige Bundes-Chef der Grünen, Cem Özdemir, der türkische Generalkonsul Mehmet Fatih Ak und die damalige Integrations-Beauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz. Die damalige, inzwischen verstorbene, Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler sagt bei dem Festakt, Hamburg wolle "ein Zeichen setzen, damit die Ermordung eines Mitbürgers aus menschenverachtenden, rechtsextremistischen Motiven nicht in Vergessenheit gerät". Die Benennung einer Straße werde immer sehr sorgfältig geprüft, "schließlich sind Straßennamen auch so etwas wie öffentliche Bekenntnisse", so Kisseler.
Lebenslänglich für Zschäpe, zehn Jahre Haft für Wohlleben
Mittwoch, 11. Juli 2018: Nach fünf Jahren Dauer spricht das Gericht die Urteile im NSU-Prozess. Zschäpe wird wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Außer den neun Männern hatte der NSU noch eine Polizistin erschossen. Der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben erhält wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen eine Haftstrafe von zehn Jahren. Wohlleben hatte nach Auffassung des Gerichtes eine der Tatwaffen beschafft - mithilfe des mitangeklagten Carsten S.. Diesen verurteilen die Richter zu einer dreijährigen Jugendstrafe, weil er zur Tatzeit erst 19 Jahre alt war. Andre E. erhält wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zweieinhalb Jahre Haft. Mit der gleichen Begründung verurteilt das Gericht Holger G. zu drei Jahren Haft.
Familienmitglieder "entsetzt über milde Urteile"
Die Hamburger Anwältin Gül Pinar, die im Prozess Familienmitglieder von Taşköprü vertreten hat, sagt dem NDR am Tag der Urteilsverkündung, die Familie sei erleichtert, dass das Urteil gefallen sei, um einen Schlussstrich zu ziehen. "Allerdings ist die Familie entsetzt darüber, wie milde das Urteil zum Teil gegen einzelne Angeklagte ausgefallen ist." Auch sie sei wütend, wie diese sich "nach dem Urteil angelächelt haben". Sie könnten damit rechnen, bald wieder das Licht der Freiheit zu erblicken, befürchtet Pinar. "Das war schwer zu ertragen."
Was wussten oder ahnten Behörden?
Die Anwältin fordert damals erneut "eine politische Aufarbeitung, weil dieser Prozess nur die Schuld und Unschuld dieser Angeklagten auf dieser Anklagebank zu klären" gehabt habe. "Damit ist natürlich überhaupt nichts darüber gesagt, wie viele andere Unterstützer es gegeben hat, in welchen gesellschaftlichen Schichten es eine unterstützende Zustimmung gegeben hat und ob bestimmte Behörden etwas gewusst oder geahnt haben."
Forderung nach Parlamentarischem Untersuchungsausschuss
In den Tagen nach den NSU-Urteilsverkündungen gibt es in Hamburg mehrfach Demonstrationen mit Hunderten Teilnehmern, die ebenfalls weitere Ermittlungen fordern. Das Gerichtsverfahren habe das Netzwerk der rechtsextremen Gruppe nicht umfassend aufgedeckt. Deshalb müsse es auch in Hamburg einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss geben. Unbeantwortete Fragen aus Sicht der Demonstranten: Wie und von wem wurde Taşköprü als Mordopfer ausgewählt? Welche Rolle spielten Hamburger Neonazis im gesamten NSU-Komplex? Welche Beteiligung hatten sie möglicherweise am Mord an Taşköprü?
Taşköprü nicht das erste Neonazi-Opfer in Hamburg
Taşköprü war nicht der erste Hamburger mit ausländischen Wurzeln, den Neonazis umbrachten. 1980 etwa kommt es zu einem folgenschweren Brandanschlag auf eine von vietnamesischen Flüchtlingen bewohnte Unterkunft. Zwei Menschen verbrennen in dem Feuer, das Mitglieder der "Deutschen Aktion" um den Rechtsradikalen Manfred Roeder gelegt hatten. Auch 1985 gibt es zwei Tote: Skinheads erschlagen im Stadtteil Langenhorn den 29-jährigen Mehmet Kaymakçı mit einer Betonplatte. Einige Monate später überfallen Rechtsextreme in Hamburg-Hohenfelde eine Gruppe aus der Türkei stammende Männer - den 26-Jährigen Ramazan Avci prügeln sie tot.
Namhafte Rechtsextreme agieren in Hamburg
Schon seit den 1970er-Jahren ist Hamburg für prominente Rechtsextreme ein beliebtes Betätigungsfeld - was für die größte Stadt in Westdeutschland aber vielleicht auch erwartbar ist. In Hamburg agierte damals Michael Kühnen mit seiner "Aktionsfront Nationaler Sozialisten", zu der auch Christian Worch gehörte, der später die Partei "Die Rechte" gründete. Weitere bekannte Namen der Hamburger Szene: der "Frei-Kameradschaftler" und NPD-Politiker Thomas Wulff sowie die "Neonazi-Anwälte" Jürgen Rieger und Gisa Pahl.
Zudem holte die rechtspopulistische "Schill-Partei" 2001 immerhin knapp 20 Prozent der Wählerstimmen in Hamburg, bildete mit CDU und FDP die Landesregierung und ihr Gründer Ronald Schill wurde Innensenator. Das war wenige Monate, nachdem Hamburgs Polizei im Mordfall Taşköprü zu ermitteln begonnen hatte.
"Neonazis konnten jahrzehntelang in Hamburg walten"
Sonnabend, 19. Juni 2021: Eine Woche vor dem 20. Jahrestag des Mordes an Taşköprü demonstrieren wieder einige Hundert Menschen in Hamburg und fordern eine bessere Aufklärung der Tat-Hintergründe. "Neonazis konnten jahrzehntelang in Hamburg walten", sagt Ünal Zeran, einer der Organisatoren der Demo. "Ich bin relativ sicher, dass es Helfer und Unterstützer des NSU in Hamburg gab." Unwahrscheinlich findet es Zeran dagegen, dass die Täter selbst ausreichende Ortskenntnisse hatten, um den Mord auf diese Weise durchzuführen. Dabei sei Taşköprü als Opfer vermutlich "relativ willkürlich ausgewählt“ worden. "Es ging den Tätern um die Botschaft dieser Taten", meint der 50-jährige Rechtsanwalt - nämlich, "dass es jeden treffen könnte", der aus ihrer Sicht nicht zugehörig ist zu Deutschland.
Fehlt der Wille zur Aufklärung?
Zeran sagt, er hätte sich neben dem Münchner Prozess eine tiefer gehende Untersuchung des NSU-Komplexes gewünscht - am besten durch eine internationale Kommission. Gerade bei rechtsextremen Taten, so Zeran, würden Justiz und Gesellschaft in Deutschland das Bild von unabhängig agierenden "Einzeltätern" offenbar mögen. "Es kann ja sein, dass es bei den NSU-Morden so etwas gab, das ist möglich", sagt der Anwalt - aber das sei eben nicht hinreichend geklärt worden. In Hamburg gab es nicht einmal einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss wie in anderen Bundesländern. "Der Polizeiapparat in der Stadt ist sehr stark von rechts-konservativen Strömungen beeinflusst", meint Zeran. Und eine möglicherweise schmerzhafte Aufarbeitung der Hintergründe des Taşköprü-Mordes könnte am Ende vielleicht dem liberalen Image schaden, das Hamburg gerne pflege. "Man kann nicht alles zu 100 Prozent aufklären - aber hier scheint auch gar nicht der Wille da zu sein."