"Stadt in der Stadt": Hat das Ihme-Zentrum in Hannover Zukunft?
Wohnen, arbeiten und einkaufen - alles an einem Ort, in der "Stadt in der Stadt". Am 31. Oktober 1974 wurde das Zentrum eingeweiht. Schon damals gab es Kritik. Heute dominieren Leerstand, Verfall und gescheiterte Sanierungen.
"Das größte geschlossene Wohn- und Gewerbe-Neubauprojekt in der Bundesrepublik, das Ihme-Zentrum in Hannover, eröffnete am Vormittag seinen Ladenbereich." So berichtet die NDR Sendung Berichte vom Tage am 31. Oktober 1974 über die Einweihung des riesigen Gebäudekomplexes. Es handelt sich dabei um Deutschlands größtes Stadtsanierungsprojekt. Das Zentrum soll die Innenstadt entlasten und zugleich zentral gelegenen Wohnraum bieten. Kostenpunkt für das Projekt: rund 350 Millionen D-Mark.
Alte Fabriken wirkten wie eine Stadtmauer
Bis 1920 hatte der Fluss Ihme die Grenze zwischen den selbstständigen Städten Hannover und Linden gebildet. Dann wurde Linden eingemeindet. Am Westufer der Ihme befanden sich drei Fabriken, sie wirkten wie eine Stadtmauer. Sie fiel erst Anfang der 1970er-Jahre. Die Fabriken machten Platz für das neue Ihme-Zentrum, das die endgültige Verschmelzung von Linden und Hannover-City besiegeln sollte - auch mithilfe einer Fußgängerbrücke über den Fluss.
Gut 300 Meter lange Ladenzeile
Die "Stadt in der Stadt", mit Sichtbeton im Stil des Brutalismus gebaut, bekommt eine mehr als 300 Meter lange Ladenstraße. Rund 100 Einkaufshäuser und Einzelhandelsläden sowie einige Büroetagen liegen 1974 auf engstem Raum zusammen. Die Verkaufsfläche liegt damals bei 60.000 Quadratmetern, die Wohnflächen bei 58.300 Quadratmetern, die sich auf rund 860 Wohnungen für 2.400 Menschen verteilen. Auch Wohnungen für Studierende werden im Ihme-Zentrum eingerichtet. Von Weitem sichtbar sind die rund 20-stöckigen Hochhaustürme, dazwischen befinden sich fünf- bis sechsgeschossige Gebäude.
Am 31. Oktober 1974 wird zunächst nur die Ladenstraße eingeweiht. Die Eigentümer und Mieter der 1.300 Wohneinheiten müssen sich noch einige Zeit gedulden, bis sie einziehen können. Doch nicht nur deswegen klingen schon damals kritische Töne an. Die Eigentumswohnungen seien für den Mittelschicht-Bürger dieses Stadtteils unerschwinglich, heißt es im NDR Nordschau Hannover vom 5. November 1974.
Das Zusammenleben funktioniert oft nicht
Bei dieser Kritik bleibt es nicht. Auch das soziale Miteinander birgt Konfliktstoff. In der Nordschau Hannover vom 15. Juni 1976 berichtet eine Anwohnerin von Überfällen auf den langen Fluren. Und: "Wenn hier mal ein alter Mann ist, der alleine wohnt und der verreckt, dann liegt der acht Wochen da. Das merkt überhaupt kein Mensch." Eine Hausgemeinschaft habe sich nicht gebildet. Dem Nordschau-Bericht zufolge scheint sich niemand zu kümmern und verantwortlich fürs Gemeinschaftliche zu fühlen. Glasscheiben werden zerschlagen, Fahrstühle fallen öfter aus. An Freizeitangebote für Jugendliche ist nicht gedacht worden.
Architektur erschwert Zugang zu den Läden
Auch architektonische Probleme offenbaren sich rasch. Die Gebäude sind verwinkelt und unübersichtlich, eine Überdachung der Passage fehlt anfangs noch, es ist zugig. Die Hauptverkehrsebene befindet sich nicht auf Straßenniveau, sondern eine Ebene höher, die nur an einigen Stellen über Treppen, Rolltreppen oder Fahrstühle erreichbar ist. Diese Distanz führt zu eingeschränkter Akzeptanz seitens der Bürger.
Das bekommen auch die Ladenzeilen-Mieter zu spüren. Einige können sich wegen des fehlenden Publikums nicht halten und verlassen das Zentrum wieder. Ihren Nachfolgern geht es oft ähnlich. In den folgenden Jahren wird der Leerstand immer größer. Die Landeshauptstadt Hannover mietet Ende der 1990er-Jahre Büroflächen im Ihme-Zentrum, unter anderem für das Hochbauamt. 2002 kommen weitere Büroflächen für städtische Ämter hinzu. 2006 zieht der letzte große Laden aus dem Zentrum aus.
Eigentümer kommen und gehen - Sanierung wird verschleppt
Bereits Anfang der 2000er-Jahre wird deutlich, dass eine Sanierung des gesamten Komplexes dringend notwendig ist. Vieles verfällt. Investoren kaufen sich ins Ihme-Zentrum ein, doch alle Vorhaben kommen nicht richtig voran. Eigentümerwechsel und finanzielle Probleme bis hin zur Insolvenz führen dazu, dass sich die Sanierung immer weiter verzögert. Bei einer Zwangsversteigerung 2014 findet sich kein Käufer. 2015 werden Eigentumsanteile an eine Berliner Grundstücks GmbH verkauft. Diese hat einige Pläne mit dem Zentrum.
2019 gehen die Anteile aber an eine Gesellschaft des Finanzinvestors Lars Windhorst. 2021 wird bekannt, dass die zuvor in Aussicht gestellten Arbeiten - zum Beispiel an der Fassade - nicht fertiggestellt werden können. Ein Insolvenzverfahren gegen eine Projekt-GmbH, die Eigentümerin der Anteile ist, wird eingeleitet. Windhorst kommt lange Zeit Aufforderungen des Gerichts nicht nach, Angaben über die Eigentumsverhältnisse und Zahlungsflüsse zu machen. Gegen ihn wird 2024 zwischenzeitlich sogar Haftbefehl erlassen. Das Gericht geht davon aus, dass Windhorst als Geschäftsführer der Projekt-GmbH anzusehen ist.
Zukunft ungewiss
Diese Auseinandersetzungen führen dazu, dass sich am Zustand der maroden Immobilie so gut wie nichts ändert. Sie bleibt ein problembehafteter Schandfleck mitten in Hannover. Von einer florierenden, gut besuchten Einkaufsmeile, wie in den 1970ern angepeilt, ist das Ihme-Zentrum weit entfernt.