"Tor für Deutschland!": Wiederaufbau für die deutsche Seele
Überraschend gewinnt die deutsche National-Elf am 4. Juli 1954 das Finale der Fußball-WM in der Schweiz gegen den Favoriten Ungarn. Das "Wunder von Bern" hilft, das nationale Selbstbewusstsein nach dem verlorenen Krieg wieder aufzubauen.
Es gibt Autoren, die den Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 als das "eigentliche Gründungsdatum" der Bundesrepublik Deutschland bezeichnen. Historiker, die sich intensiv damit beschäftigt haben, widersprechen da zwar - aber es ist auf jeden Fall ein Ereignis, das fest im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert ist. "Es war ein Sieg, der Balsam war für die deutsche Seele, gar keine Frage", erinnert sich Jürgen Bertram im NDR Info Podcast "Deine Geschichte - unsere Geschichte" im Jahr 2021.
Vorbild Helmut Rahn in "bleiernen" 50er-Jahren im Harz
Bertram, Jahrgang 1940, ist zum Zeitpunkt der WM 14 Jahre alt und ein glühender Fußballfan. Für ihn sind die Spieler der deutschen Nationalmannschaft Vorbilder. Sein Lieblingsspieler ist Helmut Rahn, "weil der sehr unkonventionell spielte und aus allen möglichen Positionen aufs Tor schoss, wie beim berühmten 3:2", dem Siegtor beim Finale von Bern am 4. Juli 1954.
Jürgen Bertram wächst in Goslar als Einzelkind mit seinem Vater auf, die Mutter ist früh gestorben. Der Vater hat sich vom Bergmann unter Tage zum Bürovorsteher hochgearbeitet. Die Atmosphäre in der Bergbau-Region im Harz ist Anfang der 50er-Jahre noch geprägt vom Ernst der Nachkriegszeit, wie er berichtet, die Arbeit hart. Es gibt klare Hierarchien. Was die Vorgesetzten sagen, muss befolgt werden. "Es war eine bleierne Zeit, wie man heute sagen würde. Bleiern war die Atmosphäre, in der sich alles abspielte."
Der Fußballplatz wird zum Zufluchtsort
Auch in den Familien geht es relativ autoritär und repressiv zu, wie Bertram sagt. Stubenarrest und Schläge gelten als probate Erziehungsmittel. "Ich durfte zum Beispiel nicht Fußball spielen", erinnert er sich. "Und ich hatte immer Angst während dieses Spiels, dass mein Vater irgendwo am Wiesenrand erscheinen und mich zu sich pfeifen würde." Am Fußball-Spiel aber hängt der kleine Jürgen mit all seinem Herzblut. Der Fußballplatz ist sein Zufluchtsort: "Fußball war für mich die einzige Möglichkeit, mich mit etwas zu identifizieren, mich selbst zur Show zu stellen, Anerkennung zu bekommen."
"Fußball galt als Proleten-Sport"
Dass Vater Bertram damals nicht will, dass sein Sohn Fußball spielt, hat soziale Gründe. "Fußball galt als Proleten-Sport", so Bertram. "Mein Vater war gerade aufgestiegen zum Bürovorsteher. Deswegen mochte er nicht, dass sein Sohn mit den Proletarierkindern Fußball spielte." Und auch wenn die Realität auf dem Platz in Jürgen Bertrams Erinnerung eine andere ist, entspricht es doch der gesellschaftlichen Wahrnehmung: Fußball gilt in den frühen 1950er-Jahren als Vergnügung der sogenannten unteren Schichten, schreiben auch Sporthistoriker.
"Proletariat" und "Bürgertum" im Bewusstsein verankert
Die gesellschaftliche Hierarchisierung ist überdies relativ fest gefügt: Die Arbeiterschaft ist eine soziale Klasse für sich. "Proletariat" und "Bürgertum" gibt es nicht nur im Sprachschatz der Kommunisten, sondern auch im Bewusstsein der Menschen. Und sozialer Aufstieg scheint kaum möglich - was auch an den fehlenden Bildungschancen liegt. 1951 zum Beispiel kommen nur drei Prozent der Abiturienten aus der Arbeiterklasse - 80 Prozent aller Kinder besuchen nur die Volksschule. Dass sich der Vater von Jürgen Bertram vom Bergmann unter Tage zum Bürovorsteher hochgearbeitet hat, gilt daher durchaus als etwas Besonderes.
Fernsehen bringt die Fußball-WM 1954 unters breite Volk
Für den Fußball wird mit der Weltmeisterschaft 1954 eine neue Entwicklung eingeleitet. Das liegt auch an dem neuen Medium: dem Fernsehen. Die WM in der Schweiz ist das erste Sportereignis, das in mehrere Länder direkt übertragen wird und live im Fernsehen mitverfolgt werden kann. Doch die Weltmeisterschaft 1954 wird am 16. Juni eröffnet - in der öffentlichen Wahrnehmung spielt das damals nicht annähernd eine so große Rolle wie etwa das Gedenken an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der 1954 erstmals als "Tag der Deutschen Einheit" begangen wird.
Die Spiele der deutschen Mannschaft wecken dann aber doch das Interesse der Menschen, wie sich Jürgen Bertram erinnert. "In den Zeitungen wurde annonciert: Die und die Kneipe überträgt dann und dann dieses oder jenes Spiel. Und da strömten die Leute dann hin." Auch vor den Geschäften, die Fernseher verkaufen, versammeln sich Trauben von Menschen.
Deutschland gilt 1954 als absoluter Außenseiter
Die deutsche Mannschaft gilt als absoluter Außenseiter. Das erste Spiel gegen die Türkei gewinnt sie, verliert dann aber gegen den WM-Favoriten Ungarn 3:8. Trotzdem zieht Deutschland in die K.-o.-Runde ein und steht nach Siegen gegen Jugoslawien und Österreich im Finale - wiederum gegen Ungarn. Die ungarische Nationalmannschaft hatte seit Jahren kein Spiel mehr verloren. "Das war der große Favorit", so Bertram.
Reporter sind zunächst lustlos, über das Finale zu berichten
Rudi Michel, der zum Team der deutschen Radioreporter bei der WM gehört, erinnert sich später in einem NDR Interview, dass er und seine Kollegen ziemlich fest mit einer deutschen Niederlage rechneten. Keiner hat damals Lust, über dieses Finale zu berichten. Am Ende wird die Live-Reportage von Herbert Zimmermann zu einem Dokument der Zeitgeschichte, vor allem die immer wieder gespielte Passage vom Siegtor:
"Schäfer nach innen geflankt. Kopfball. Abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen ... Rahn schießt ... Tooor! Tooor! Tooor! Tooor! Tor für Deutschland!"
Die deutsche Mannschaft siegt 3:2.
Endspiel Deutschland-Ungarn: Heimlich die Dachrinne runter
Der 14-jährige Jürgen Bertram erlebt diesen Moment in der Kneipe im Schützenhaus von Goslar - ohne das Wissen seines Vaters. "Ich hatte Stubenarrest an dem Tag, als die Deutschen Weltmeister wurden." Er aber hangelt sich die Dachrinne herunter und läuft in die Kneipe. Dort wird der Sieg bejubelt und das Spiel analysiert: "Ich glaube, das war die mannschaftliche Geschlossenheit, der Geist von Spietz. Das war das Quartier der deutschen Nationalmannschaft, die dort offensichtlich zusammengewachsen ist", ist Bertram auch heute noch überzeugt. Auch, dass die Deutschen im Unterschied zu den Ungarn regentaugliche Schuhe trugen, habe wohl geholfen.
Die "Helden von Bern" sind noch Fußballer ohne Millionen
In Bern stürmen die Zuschauer nach der Siegerehrung das Spielfeld und tragen Trainer Sepp Herberger und die wichtigsten Spieler auf den Schultern. Für viele werden sie durch diesen Sieg zu den "Helden von Bern". Der Sonderzug, der die Spieler aus der Schweiz zurück nach Deutschland bringt, wird an fast jedem Bahnhof von einer begeisterten Menge empfangen. Man habe sich mit den Spielern leichter identifizieren können als heute, so Jürgen Bertram über die Begeisterung. Denn die Spieler üben damals alle andere Berufe aus, spielen "nur" nebenbei - und kassieren keine Millionen.
Die erste Strophe: Nationalismus oder Überschwang?
Zur Popularität habe auch beigetragen, dass Deutschland wie David den Fußball-Goliath Ungarn geschlagen habe, ergänzt Bertram. Der Sieg habe ein patriotisches "Wir sind wieder wer"- Gefühl geweckt. Allerdings gehen die Meinungen, wie weit die Freude über den Sieg der deutschen Fußball-Elf als erneutes Aufwallen von Nationalismus interpretiert werden muss, auseinander. Jürgen Bertram erinnert sich, dass in der Schützenhaus-Kneipe beim Finale die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen wird. Auch im Fußball-Stadion in Bern singen einige deutsche Zuschauer beim Spielen der Nationalhymne diese erste Strophe.
Manche sehen darin allerdings kein bewusstes nationalistisches Statement, sondern eher Dummheit in einem Moment des emotionalen Überschwangs. Auch Stimmen, dass der Sieg gegen Ungarn vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs als Sieg des Westens über den Osten interpretiert werden könne, entsprechen in einer Zeit, in der sich Bundeskanzler Konrad Adenauer noch um die Souveränitätsrechte für die Bundesrepublik bemüht, nicht der offiziellen politischen Lesart.
Bundespräsident verzichtet auf Politisierung des Siegs
Von der Politik jedenfalls wird dieser WM-Sieg nicht nationalistisch ausgeschlachtet. Kein Minister ist beim Finalspiel im Stadion, vom Bundeskanzler ganz zu schweigen. Und Bundespräsident Theodor Heuss verteidigt bei seinem Empfang für die erfolgreiche Mannschaft zwar patriotische Freude, wendet sich aber ausdrücklich gegen die Politisierung des Sportereignisses - und gegen das nationalistisch klingende Pathos, mit dem DFB-Präsident Peco Bauwens aufgetreten war: "Wir sind wegen des Sportes da. Ich glaube, wir sollten ihn außerhalb der Politik halten."
Auf dem Bolzplatz: "Man war plötzlich Helmut Rahn"
Der 14-jährigen Jürgen Bertram macht sich damals ich keine Gedanken über Politik, sondern ist einfach begeistert über den sportlichen Sieg: "Man war plötzlich Helmut Rahn, während man spielte. Schoss wie er aufs Tor, oder man war Fritz Walter und lenkte das Spiel." Und das war laut den Historikern, die sich intensiv damit beschäftigt haben, letztlich auch die insgesamt vorherrschende Reaktion.