Die Jagd nach Nazi-Verbrechern durch die Briten
Britische Offiziere - meist jüdische Emigranten, die vor dem Nazi-Regime fliehen konnten - spüren 1945/46 Kriegsverbrecher im Norden auf. Sie stoßen auf schieres Grauen, finden Beweise und sorgen dafür, dass etlichen NS-Größen der Prozess gemacht werden kann.
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Ende April 1945, stellen die Briten mit der "War Crimes Investigation Unit" (WCIU) ein Ermittler-Team zusammen, um deutsche Kriegsverbrecher dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen. Auslöser sind die grauenhaften Zustände im gerade befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zunächst sind es nur drei Offiziere, die eidesstattliche Versicherungen von Überlebenden sammeln, die später im Belsen-Prozess vorgelegt werden: "Die Beweise strömten wie eine Sintflut über uns herein. Trotzdem versagten wir, weil die Welle der Verbrechen so groß war und unsere Möglichkeiten so begrenzt", so ein Mitglied der WCIU damals. Das Doku-Drama "Nazijäger - Reise in die Finsternis" in der ARD-Mediathek erzählt die Geschichte der Ermittler und dokumentiert einige der NS-Gräueltaten.
Jüdische Emigranten ermitteln gegen NS-Größen
Vor allem jüdische Emigranten, die vor der Nazi-Herrschaft nach Großbritannien fliehen konnten, sind damals als Ermittler bei der WCIU gefragt - in erster Linie wegen ihrer Sprachkenntnisse.
Fred Pelikan wurde 1918 in Oberschlesien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchte er vergeblich, nach Belgien zu fliehen und wurde im KZ Dachau interniert. Die Familie besorgte Emigrationspapiere und so durfte er nach England ausreisen, wo er seinen Namen in Pelican änderte. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie verhörte er deutsche Offiziere. Ab Mai 1945 arbeitet er als Dolmetscher im Team, später dann als Mitglied der WCIU. In seinen Erinnerungen schreibt er: "Ich musste mir sehr schnell Kenntnisse in Ermittlungs-, Kreuzverhör-, und Verhörtechniken und die rechtlichen Abläufe aneignen. Man brachte mir bei, wie man rechtlich verbindliche 'Depositions' ausfertigt; dass man während eines Verhörs keine Deckenlampe verwenden sollte und wie man während eines Verhörs die Veränderungen der Mimik einer Person beobachtet. Ich war überzeugt, dass ich jede Aufgabe erfüllen konnte."
Hanns Alexander: Verhaftung von Höß wird wichtigstes Ziel
Auch Hanns Alexander wird ab Mai 1945 zunächst als Dolmetscher eingesetzt. 1917 in Berlin geboren, floh der Sohn eines erfolgreichen Arztes 1936 mit seiner Familie nach England. Nachdem er die grauenhaften Zustände in Bergen-Belsen gesehen hat, ist aus dem einst so unbeschwerten Jungen ein hasserfüllter Nazijäger geworden. Es ist jetzt der Sinn seines Lebens, die Mörder an den Galgen zu bringen. Wichtigstes Ziel seiner Ermittlungen ist die Verhaftung von Rudolf Höß, dem ehemaligen Kommandanten von Auschwitz.
Anton Walter Freud stößt 1945 zum Team
Im September 1945 stößt Anton Walter Freud zum Team. 1938 gelang ihm im Alter von 17 Jahren mit seinem Vater und Großvater, dem weltberühmten Psychoanalytiker Sigmund Freud, die Flucht aus Wien nach London. Bei Kriegsende wurde er in England wegen seiner tollkühnen Aktionen als Kriegsheld gefeiert. Seine Personalakte zeigt, dass er ein unkonventioneller Freigeist war, der sich nur ungern unterordnete: "Er ist äußerst intelligent und verfügt über alle physischen Voraussetzungen für die Aufgabe. Allerdings verabscheut er Disziplin, was sich inzwischen verbessert hat. Er wird von Nutzen sein", heißt es dort.
Interesse an Verfolgung der Täter zunächst gering
Doch zunächst ist nur der Tod oder die Misshandlung von Angehörigen alliierter Nationen Gegenstand der Ermittlungen, da aus britischer Sicht nur Kriegsparteien Kriegsverbrechen gegeneinander verüben können. Der Generalstaatsanwalt in London zeigt wenig Interesse an der Verfolgung der Täter, weil nur wenige britische Staatsbürger betroffen sind. "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" werden als Anklagepunkt erst bei den Nürnberger Prozessen Ende 1945 zugelassen.
Wie weiter nach dem Belsen-Prozess?
Die Briten bremsen vor allem aus finanziellen Gründen eine mögliche Prozess-Flut. Der Staatssekretär im Kriegsministerium schreibt: "Es gibt offenbar Schwierigkeiten, solche Prozesse durchzuführen. Deshalb möchte ich, dass die Kosten so niedrig wie möglich gehalten werden und die Zahl der Verfahren möglichst klein gehalten wird." So konzentriert sich die Ermittlungsarbeit zunächst auf nur 90 Personen der SS-Verwaltung von Bergen-Belsen und einige ungarische Wachmannschaften. Der Prozess in Lüneburg endet im November 1945 mit elf Todesurteilen. Doch wie soll es weitergehen? Der Leiter einer Arbeitsgruppe in London schreibt: "Jeder im Kriegsministerium meint, dass es eine teure, undankbare Arbeit ist, die bei der Öffentlichkeit nicht sonderlich populär ist. So sitzen wir also da und warten ab, was die Politiker entscheiden."
Ausweitung der Untersuchungen unter Anthony Somerhough
Eine zentrale Rolle spielt Group Captain Anthony Somerhough, der sich vollständig seiner Mission verschrieben hat. "Wahrscheinlich der genialste Mann, den ich je getroffen habe", erinnert sich später die Geheimdienst-Mitarbeiterin Vera Atkins, "und ganz sicher der geistreichste." Er benötigt Ermittler, Jäger-Typen und Verhör-Experten. Alles verläuft chaotisch, und so gibt es Kritik aus London an der Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt sind nur 200 Männer in Haft, etwa 1.000 werden als Zeugen eingestuft.
Schließlich gelingt es, zusätzliche Ermittler und Staatsanwälte zu bekommen. Die Untersuchungen werden auf allgemeine Kriegsverbrechen in den Konzentrationslagern ausgeweitet. Nach Bergen-Belsen stehen das KZ Neuengamme und das KZ Ravensbrück im Fokus. Alles macht einen ungeordneten und zufälligen Eindruck ohne klaren Plan - als seien Amateur-Detektive am Werk. Deshalb wird die "War Crimes Investigation Unit" neu organisiert, die aber aus finanziellen Gründen unterbesetzt bleibt. Am 31. Januar 1946 befinden sich 53.000 Deutsche in britischem Gewahrsam, darunter viele KZ-Wachleute und SS-Mitglieder. 2.500 werden der Kriegsverbrechen verdächtigt. Somerhough will bis zum 30. April 500 Anklageschriften fertig haben.
Pelican und Freud ermitteln gegen Zyklon-B-Händler
Zusammen mit Fred Pelican ermittelt Anton Walter Freud zunächst gegen die Hamburger Firma Tesch & Stabenow, die das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B an die Vernichtungslager der Nazis geliefert hat. In den Geschäftspapieren finden sie viele Beweise und sie dokumentieren Zeugenaussagen, die bestätigen, dass der Geschäftsführer von der Verwendung des Giftes in den Gaskammern von Auschwitz gewusst hat. Die Briten machen Dr. Bruno Tesch im März 1946 im Hamburger Curio-Haus den Prozess. Er erhält die Todesstrafe, die bereits im Mai vollstreckt wird.
Freud stößt aufs Grauen vom Bullenhuser Damm
In der Zwischenzeit ermittelt Freud gegen Verantwortliche aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Dabei stößt er auch auf den Fall von 20 Kindern, die dort medizinischen Experimenten ausgesetzt waren. Bei Kriegsende verlor sich ihre Spur, doch ehemalige Häftlinge können von den Ereignissen berichten. Der verantwortliche Arzt, Dr. Kurt Heißmeyer, ist spurlos verschwunden, doch Freud gelingt die Verhaftung von Dr. Alfred Trzebinski, dem Standort-Arzt im KZ Neuengamme. Der leugnet zunächst, vom Schicksal der Kinder zu wissen, doch nach und nach kommen die Ermittler der furchtbaren Wahrheit auf die Spur. Kommandant Max Pauly, Trzebinski und weitere SS-Schergen erhalten im Hamburger Neuengamme-Prozess die Todesstrafe - nicht zuletzt wegen der Morde an den zwanzig Kindern im Keller der Schule am Bullenhuser Damm. Alle werden im Oktober 1946 in Hameln an den Galgen gebracht.
Verantwortlicher Arzt überführt sich selbst
Dr. Kurt Heißmeyer arbeitet bis 1963 unbehelligt als Arzt in Magdeburg. Erst nach Berichten in der westdeutschen Presse wird er von den DDR-Behörden verhaftet und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er stirbt 1967 im Gefängnis von Bautzen. Im Rahmen der Ermittlungen hatte er das Versteck einer Kiste verraten, in der sich auch Beweise für seine menschenverachtenden Experimente an den Kindern befanden.
Ergreifung von Höß wird Alexanders größter Coup
Im März 1946 gelingt dem jungen Hanns Alexander sein größter Coup: In einer Scheune bei Flensburg spürt er den ehemaligen Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß auf. Nach seiner Verhaftung durch Alexander und seine britischen Ermittler-Kollegen wird Höß zunächst nach Nürnberg überstellt. Dort soll er als Zeuge der Verteidigung im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher aussagen. Danach wird er an Polen ausgeliefert und 1947 in Warschau zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung findet auf dem Gelände des Stammlagers in Auschwitz statt.
"Macht mich krank, wie viele Mörder ich gehen lassen musste"
Hanns Alexander verlässt Deutschland wieder - und schwört, nie wieder dorthin zurückzukehren. Im Mai 1946 heiratet er in London seine Verlobte und arbeitet bei einer Bank. Über seine Erlebnisse spricht er nur ungern: "Ich bin aber hasserfüllt. Es macht mich krank zu sehen, wie viele Mörder ich gehen lassen musste." Im Dezember 2006 stirbt Alexander im Alter von 89 Jahren.
Fred Pelican verlässt im September 1946 die "War Crimes Investigation Unit" und kehrt nach Hause zu seiner Familie zurück. Er betreibt erfolgreich Teppichgeschäfte in London und gilt als angesehenes Mitglied der Branche. 1993 veröffentlicht er seine Memoiren "From Dachau to Dunkirk".
Zur gleichen Zeit wird auch Anton Walter Freud im Rang eines Majors aus der britischen Armee entlassen. Er ist 25 Jahre alt und beginnt mit einem Studium des chemischen Ingenieurswesens. Er wird britischer Staatsbürger und heiratet im August 1947 in Dänemark Annette Krarup. Das Paar bekommt drei Kinder. Freud spricht nie über die furchtbaren Details seiner Ermittlungen und stirbt im Februar 2004.
Militärgerichtsprozesse in Hamburg bis 1949
Die britische Politik hat offenbar schon lange kein Interesse mehr an weiteren Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher. Am 30. Mai 1946 schreibt Antony Somerhough resigniert: "Es wird in bestimmten Teilen des Hauptquartiers offenbar nicht anerkannt, dass sich die WCIU mit vorrangigen Aufgaben beschäftigt oder dass sie eine hochspezialisierte Einheit ist, die nicht aus normalen Offizieren und Männern besteht, sondern aus Personen zusammengestellt wurde, die wegen ihrer Sprachkenntnisse oder anderer Qualifikationen ausgesucht wurden. Viele haben auf die Entlassung aus der Armee freiwillig verzichtet, weil sie diese Arbeit machen wollen - obwohl sie ein wenig unerfreulich ist." Im Hamburger Curio-Haus finden trotzdem noch bis Dezember 1949 britische Militärgerichtsprozesse statt. Insgesamt stehen dort 445 Männer und 59 Frauen vor Gericht. Es werden 102 Todesurteile gefällt und 267 Haftstrafen verhängt.