Angeklagte im Curiohaus-Prozess, links KZ-Kommandant Max Pauly © picture-alliance / akg-images

Täter des KZ Neuengamme vor Gericht: Prozess gegen Reuelose

Stand: 18.03.2021 23:00 Uhr

Im Hamburger Curiohaus beginnt am 18. März 1946 der erste Prozess gegen die Verantwortlichen des Konzentrationslagers Neuengamme vor einem britischen Militärgericht. Reue zeigen die Angeklagten nicht

von Irene Altenmüller

Angeklagt sind im sogenannten Curiohaus-Prozess 14 leitende SS-Männer, darunter der letzte Kommandant des KZ Neuengamme Max Pauly. Ihnen wird die Tötung und Misshandlung von Inhaftierten, die Vergasung sowjetischer Kriegsgefangener sowie die Praxis der "Vernichtung durch Arbeit" vorgeworfen. Unter den Angeklagten befinden sich auch mehrere SS-Männer, die an der Ermordung von 20 Kindern in der Schule am Bullenhuser Damm im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort beteiligt waren.

Bei der Verfolgung der NS-Verbrechen beschränken sich die Briten auf Straftaten an Staatsangehörigen der alliierten Nationen. Die Verfolgung von Verbrechen an Deutschen hatten die Briten Ende Dezember 1945 den deutschen Gerichten übertragen.

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Totenlisten im Dielenboden versteckt

Anders als etwa bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, bei der die Briten auf Berge von Leichen und Massen ausgemergelter Häftlinge gestoßen waren, hatten sie das KZ Neuengamme geräumt vorgefunden. Bevor die SS das Lager im April 1945 verließ, hatte sie fast alle schriftlichen Unterlagen vernichtet, um die Spuren der Verbrechen zu beseitigen. Allerdings war es einem Häftlingsschreiber gelungen, den letzten Quartalsbericht sowie ein Totenverzeichnis an sich zu nehmen und unter den Fußbodendielen im Krankenrevier zu verstecken. Diese Aufzeichnungen sind nun im Prozess die einzigen schriftlichen Beweise, die den britischen Ermittlern vorliegen.

Wichtigste Informationsquelle der Ermittler sind aber die ehemaligen Häftlinge. Sie berichten über die Verbrechen in Neuengamme, identifizieren die Täter und sagen als Zeugen aus.

Überlebende des KZ Neuengamme sagen aus

Das Curiohaus in Hamburg. © NDR Foto: Heiko Block
Das Curiohaus an der Hamburger Rothenbaumchaussee diente den Briten als Gerichtssaal.

18 ehemalige Häftlinge treten im Prozess als Zeugen auf. Sie schildern die unmenschlichen Zustände im Lager und barbarische Strafen wie Peitschenhiebe oder das Aufhängen der Häftlinge an den im Rücken zusammengebundenen Armen. Sie wurden beispielsweise verhängt, "wenn ein Häftling sein Taschentuch während der Essenszeit wusch und es am Nachmittag an der Arbeitsstelle zum Trocknen aufhängte", berichtet der Zeuge Albin Lüdke, der als Kommunist ab Juni 1940 im KZ Neuengamme inhaftiert ist.

"Häftlinge langsam sterben lassen"

Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme heben den Stichkanal vom Klinkerwerk zur Dove-Elbe aus. © picture-alliance Foto: Foto der SS von 1941 / KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Häftlinge im KZ Neuengamme. Wer in der Strafkompanie arbeiten musste, hatte die geringsten Überlebenschancen.

Gegenstand der Verhandlungen ist insbesondere auch die nationalsozialistische Strategie der "Vernichtung durch Arbeit": "Es war ein System, nicht nur die Häftlinge zu schlagen, sondern sie langsam sterben zu lassen. Alles im Lager war organisiert mit dem Ziel, die Häftlinge so weit wie möglich auszulaugen", erklärt der französische Anatomie-Professor Marcel Prenant, der im Juni 1944 nach Neuengamme kam, in seiner Zeugenaussage. Ähnliches berichtet der britische Schulleiter und ehemalige Häftling Harold Le Druillenec: "Nach zwei oder drei Monaten war uns vollkommen klar, dass das Hauptziel eines KZ der Tod der Häftlinge war, aber nur nach ausreichender Arbeit oder indem man zumindest versuchte, so viel Arbeit wie möglich noch kurz vor ihrem Tod von den Häftlingen zu bekommen. Oder, um es sehr kurz zu sagen: Tod durch Arbeit."

Keine Reue bei den Angeklagten

Anklagebank bei einem der Curiohaus-Prozesse in Hamburg im Jahr 1946 © Gedenkstätte KZ Neuengamme
Zur besseren Identifizierung durch Zeugen sind die Angeklagten mit Nummern gekennzeichnet. In der Reihe davor sitzen ihre Anwälte.

Bei den Angeklagten ist bis zum Prozesssende von Reue nichts zu spüren. Alle plädieren zu Prozessbeginn auf "nicht schuldig". Nach ihrem Verständnis haben sie lediglich auf Befehl und im Rahmen des geltenden Rechts gehandelt. Zugleich streiten sie ab, von Verbrechen gewusst zu haben, verharmlosen die Zustände oder behaupten, sie hätten versucht, das unter den gegebenen Umständen Beste für die Gefangenen zu tun.

Der Zynismus der Täter

So sagt der SS-Mann Walter Kümmel vor Gericht aus, er habe die Inhaftierten aus fürsorglichen Motiven geschlagen: "Manche Häftlinge tauschten ihre Brotration gegen Zigaretten, und da sie so wenig Brot hatten und ich sie vor Krankheit bewahren wollte, schlug ich sie manchmal. Wenn ich es gemeldet hätte, wären sie zur Strafkompanie gekommen und ich konnte nicht verantworten, diese armen halbverhungerten Leute solch einer schlimmen Bestrafung auszusetzen." Aus der Aussage des Lagerkommandanten Max Pauly spricht dagegen vor allem Stolz auf die eigene Arbeit: "Neuengamme war meiner Meinung nach eines der am besten organisierten und geführten Konzentrationslager. Neuengamme war Nummer 1".

Das Royal Warrant - entscheidend für die Bestrafung der Täter

Nicht immer lässt sich im Prozess einem einzelnen NS-Täter ein bestimmtes Verbrechen nachweisen. Um diesem besonderen Problem der Beweisführung Rechnung zu tragen, haben die Briten bereits im Juni 1945 im sogenannten Royal Warrant festgelegt, dass auch einzelne Mitglieder einer festen Gruppe, der ein Verbrechen nachgewiesen werden kann, für dieses Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden können - auch, wenn sie bei der Tat selbst nicht anwesend waren. Damit ist bereits die Mitwirkung am System der Konzentrationslager strafbar. Dies war im deutschen Strafrecht nicht möglich.

Elf Todesurteile, drei Gefängnisstrafen

Nach 39 Verhandlungstagen verkündet das britische Militärgericht am 3. Mai 1946 die Urteile gegen die 14 Angeklagten. Gegen elf von ihnen, darunter Max Pauly, verhängt das britische Militärgericht die Todesstrafe. Sie werden am 8. Oktober 1946 im Zuchthaus Hameln hingerichtet. Die übrigen drei Verurteilten - darunter Walter Kümmel - erhalten Gefängnisstrafen. Das Gräberfeld in Hameln, auf dem neben den Tätern von Neuengamme weitere NS-Verbrecher begraben werden, entwickelt sich über Jahrzehnte zu einem Wallfahrtsort für Alt- und Neonazis. Erst 1986 wird es eingeebnet.

"Man wollte das nicht hören"

Bis heute ist der Curiohaus-Prozess nicht nur für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen, die im KZ Neuengamme begangen wurden, von großer Bedeutung. 1946 werden diese Verbrechen erstmals überhaupt öffentlich benannt. Doch entsetzte Reaktionen bleiben größtenteils aus. "Man wollte das nicht hören. Die Deutschen waren eine durchnazifizierte Gesellschaft - und jetzt wurde ihnen vorgehalten, dass sie moralisch verwerflich seien. Das konnten sie mit ihrem Selbstbild nicht vereinbaren", deutet der für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme tätige Historiker Reimer Möller dieses Verhalten 2011 in einem Interview mit der "taz".

Großteil der Täter kommt straflos davon

Nach diesem Curiohaus-Prozess finden eine Reihe weiterer Prozesse rund um das Konzentrationslager Neuengamme statt. Bis zum Jahr 1948 klagen die Briten 109 SS-Angehörige an, darunter 19 Frauen, die in den Lagern als Aufseherinnen gearbeitet hatten. Bundesrepublik und DDR leiten in den folgenden Jahrzehnten insgesamt lediglich 142 Ermittlungsverfahren ein - eine verschwindend geringe Anzahl angesichts der Zahl von rund 4.500 SS-Leuten, die im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern tätig waren. Der Großteil der Verfahren wird eingestellt. So kommen etwa Täter wie Arnold Strippel, der nachweislich an der Ermordung der Kinder vom Bullenhuser Damm beteiligt war, unbehelligt davon.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 18.03.2021 | 19:00 Uhr

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