Blick auf die Anklagebank beim Nürnberger Kriegsverbrecher-Hauptprozesses am 20. November 1945 im Gerichtssaal des Justizpalastes in Nürnberg. © picture alliance/DB/dpa Foto: DB

Nürnberger Prozesse: Ein Meilenstein des Völkerrechts

Stand: 20.11.2020 14:50 Uhr

Am 20. November 1945 begannen die Nürnberger Prozesse und mit ihnen ein wichtiges Kapitel der juristischen und historischen Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkriegs. Ein Gespräch mit dem Historiker Norbert Frei.

Herr Frei, die Nürnberger Prozesse, mit Beginn wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs, werden als Meilenstein des Völkerrechts betrachtet. Von Nürnberg bis Den Haag: Ist das eine klare Erfolgsgeschichte?

Norbert Frei: Nein, das ist keine klare Erfolgsgeschichte - aber ein Meilenstein war Nürnberg allemal. Sie sprechen - wie es viele tun - von den Nürnberger Prozessen, aber letzten Endes war der zentrale Meilenstein der Nürnberger Prozess. Das war der Hauptprozess, der international von den vier Alliierten geführt wurde, während die Nürnberger Nachfolgeprozesse, die nach dem Internationalen Militärtribunal begannen, nur noch von den Amerikanern alleine geführt worden sind.

Vieles war neu an den Prozessen, unter anderem gab es eine sehr breite mediale Berichterstattung, sodass die Verhandlungen weltweit mitverfolgt werden konnten - auch von der deutschen Bevölkerung. Der Zweite Weltkrieg war gerade erst vorbei, Deutschland lag noch in Trümmern - waren die Menschen dafür schon bereit? Wie wurden die Prozesse von ihnen aufgenommen?

Frei: Das Ganze deutet auch daraufhin, dass mit Nürnberg nicht einfach nur ein Prozess geführt wurde, sondern es ging darum, der Welt und insbesondere den Deutschen vorzuführen, was während der NS-Zeit und während des Krieges im Blick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten der Fall gewesen ist. Es ging also um Aufklärung. Es ging um weit mehr als nur um die Verurteilung dieser Angeklagten, obgleich auch das wiederum ein Novum war: Es wurde kein kurzer Prozess mit den Verlierern des Krieges gemacht, sondern sie wurden vor Gericht, vor aller Öffentlichkeit, vor der Welt zur Rechenschaft gezogen.

Wie haben sich die Prozesse auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik ausgewirkt?

Frei: Das ist eine interessante Beobachtung, die man hier machen kann: Die Besatzungsmächte, vor allem die Amerikaner, haben genau darauf geachtet, wie die Deutschen auf den Prozess, der immerhin ein gutes Jahr lief, reagiert haben. Am Anfang gab es eine sehr große Bereitschaft und sehr großes Einverständnis für diese Art der Ahndung, nach dem Prinzip: Endlich lässt man die Großen nicht laufen und hängt nicht die Kleinen. Als später klar wurde, dass der Nürnberger Hauptprozess und das, was danach folgte, mehr war, dass es um eine durchgängige Entnazifizierung und um eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ging, eine Rechenschaft, die jeder einzelne machen musste, auch die kleinen Nazis, da änderte sich die Zustimmung bei den Deutschen sehr rasch. Relativ bald war in Deutschland wieder von Siegerjustiz die Rede - eine Einstellung zu Nürnberg, die jahrzehntelang eine wichtige Rolle gespielt hat, gerade auch bei den deutschen Juristen, die gegenüber diesem Versuch sehr lange sehr skeptisch gewesen sind.

Welche Rolle hat das Urteil von Nürnberg über Deutschland hinaus gespielt, wenn es um die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht?

Frei: Es hat zunächst ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass man solchen Ereignissen juristisch begegnen kann. Es wurde ein alter Traum, den viele Juristen und Völkerrechtler gehabt haben, umgesetzt, dass Verbrechen von politisch Verantwortlichen nicht einfach hingenommen werden müssen. Insofern ist es richtig, von diesem gesetzten Meilenstein zu sprechen, auch wenn dieser Meilenstein im Kalten Krieg in Vergessenheit geriet und die ganze Idee von Nürnberg aufgrund der Ost-West-Konstellation nicht mehr weiter verfolgt werden konnte. Insofern ist es kein Wunder, dass es erst in den frühen 1990er-Jahren eine Renaissance dieser Idee gegeben hat, die schließlich zu dem Haager Gericht führt und zu dem Römischen Statut 2002, das dann in Kraft trat - auch wenn die Amerikaner, die es am Anfang mit auf den Weg gebracht hatten, ihre Unterschrift am Ende wieder zurückgezogen haben. Es ist ein langer, komplizierter, schwieriger Weg von Nürnberg bis zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Bis heute müssen sich hochbetagte Nazi-Verbrecher für ihre Taten Jahrzehnte später verantworten. Warum ist es so wichtig, dass diese Verhandlungen noch immer geführt werden?

Frei: Das ist eine andere Ebene als die des Internationalen Strafrechts. Aber gerade wir Deutsche sind gut beraten, an dem Grundsatz der Nichtverjährung von Mord festzuhalten. Und solange in diesem Sinne noch Verbrechen aufgearbeitet werden können, muss dies auch geschehen. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Höhe des Strafmaßes gegenüber Greisen, sondern es geht darum, dass Mord nicht verjährt und dass dieses Unrecht, mit dem sich die deutsche Justiz sehr lange Zeit sehr schwer getan hat, aufgearbeitet wird und dass über solche Prozesse auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema immer wieder bekräftigt und erneuert wird.

Das Interview führte Alexandra Friedrich.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 20.11.2020 | 18:00 Uhr

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