Die konstituierende Sitzung der ersten frei gewählten Bürgerschaft in Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg. © picture alliance / dpa

Als die Hamburger endlich wieder wählen durften

Stand: 13.10.2021 05:00 Uhr

Am 13. Oktober 1946 beginnt eine neue Ära für Hamburg: In einer weitgehend zerstörten Stadt stimmt die Bevölkerung erstmals nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder über die Hamburgische Bürgerschaft ab.

von Marc-Oliver Rehrmann, NDR.de

Zu wenig Sperrholz für die Wahlurnen, zu wenig Bleistifte für die Kreuze auf den Stimmzetteln und zu wenig Kerzen für den Siegellack der Umschläge: Unter ausgesprochen widrigen Umständen geht diese Bürgerschaftswahl in Hamburg am 13. Oktober 1946 über die Bühne. Es ist nicht irgendeine Wahl, sondern die erste freie Wahl in der Hansestadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuvor mussten die Hamburgerinnen und Hamburger mehr als 14 Jahre lang - seit April 1932 - auf eine Wahl warten, die diesen Namen auch verdient. Zudem ist es die erste freie Abstimmung in Groß-Hamburg. Denn die Stadtgrenzen hatten sich mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 stark verändert. Die Wahl von 1946 sollte dann einen Bürgermeister hervorbringen, der die Geschicke der Stadt lange leitet.

"Es war eine extreme Zeit"

Vor Ruinen ausgebombter Wohnhäuser in Hamburg stehen Behelfsheime, sogenannte Nissenhütten. © picture-alliance/ dpa Foto: Ulrich Mohr
Im Jahr 1946 liegen weite Teile Hamburgs weiterhin in Trümmern: Zehntausende Menschen leben in Blechbaracken, den sogenannten Nissenhütten.

Im Herbst 1946 gleicht die Hansestadt mehr einem Trümmerfeld als einer Großstadt. 60 Prozent der Wohnungen sind zerstört oder schwer beschädigt. 900.000 Hamburger hatten ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Und immer noch leben 280.000 Hamburger, die in den Kriegsjahren evakuiert worden waren, außerhalb der Stadt. Die britische Militärregierung untersagt ihnen die Rückkehr. "Es ist eine extreme Zeit gewesen, in der die erste Bürgerschaftswahl stattfand", so Christoph Strupp von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. 90 Prozent der Bevölkerung gelten damals als unterernährt. Es fehlt überall an Baumaterialien und Brennstoffen wie Kohle. Und dennoch kann die Wahl gestemmt werden - dem Einfallsreichtum sei Dank. So kommen statt Wahlurnen aus Holz Tausende umfunktionierte Munitionskisten zum Einsatz, die die Briten aus Bad Segeberg herbeischaffen lassen.

Unsichtbarer Spitzenkandidat bei SPD

Undatierte Porträtaufnahme des SPD-Politikers Max Brauer © picture alliance / dpa
Max Brauer galt deutschlandweit als einer der bedeutendsten Oberbürgermeister zur Zeit der Weimarer Republik - 1946 kehrte er aus dem Exil nach Hamburg zurück.

Bei der Bürgerschaftswahl machen sich die SPD und die CDU Hoffnung auf einen Sieg. Die Christdemokraten treten mit einem Spitzenkandidaten an: dem amtierenden Bürgermeister Rudolf Petersen - einem jüngeren Bruder des früheren Hamburger Bürgermeisters Carl Petersen. Der Übersee-Kaufmann hatte das Amt im Mai 1945 - kurz nach der Kapitulation - "schweren Herzens" angenommen. Rudolf Petersen sah sich nicht als Politiker, gab aber schließlich nach, weil kein anderer geeigneter Kandidat in Sicht war. Erst 1946 trat er dann der CDU bei. Die Sozialdemokraten ihrerseits ziehen mit einem "unsichtbaren" Spitzenkandidaten in den Wahlkampf. Klar ist: Falls die SPD gewinnen sollte, würde Max Brauer das Amt des Bürgermeisters übernehmen. Aber der ehemalige Oberbürgermeister von Altona (1924 bis 1933) taucht nicht auf den Wahlplakaten auf - und auch aus dem Wahlkampf hält er sich weitgehend raus. Wohl auch, weil Brauer nach seinem Exil in den USA nur noch die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt.

Wahlkampf im Zeiten von Hunger und Not

"Im Herbst 1946 hat es keinen Wahlkampf gegeben, wie wir ihn heute kennen", sagt Historiker Strupp. "Die Parteien hatten keine unterschiedlichen Lösungsansätze für die gravierenden Probleme wie Wohnungsmangel und Lebensmittelversorgung." Die CDU verzichtet sogar auf ein Wahlprogramm. Sie setzt darauf, das sozialistische und liberale Weltbild als eine Gefahr für die christlich-abendländische Tradition darzustellen. Die SPD hingegen stellt ein Arbeitsprogramm mit 28 Punkten auf - mit den Schlagworten Sozialismus, Planwirtschaft und Demokratie: Nur ein sozialistisches Hamburg "könne ein gesundes und dann einmal wieder ein blühendes Hamburg werden". Wichtigste Zielgruppe ist naturgemäß die Arbeiterschaft. Bei einer Massen-Wahlkundgebung der SPD im August 1946 strömen 50.000 Menschen in die Grünanlage Planten un Blomen.

Viele frühere NSDAP-Mitglieder durften wählen

Wer mindestens 21 Jahre alt ist, darf wählen gehen. Aber es gibt eine Hürde - die Vergangenheit im Dritten Reich: Mehr als 14.000 Hamburger werden aus politischen Gründen von der Wahl ausgeschlossen. Dies trifft beispielsweise alle, die jemals der Gestapo oder der SS angehörten. Auch alle führenden NSDAP-Funktionäre müssen zu Hause bleiben. Allerdings dürfen diejenigen Hamburgerinnen und Hamburger wählen, die erst ab dem 1. März 1933 NSDAP-Mitglied wurden. Viele ehemalige Angestellte im NS-Apparat können nicht an die Urne. Aber die Bestimmungen sind nicht immer logisch: So sind etwa "Reinmachefrauen" der NS-Kriegsopferversorgung vom Wahlrecht ausgeschlossen, während "Reinmachefrauen" der NSDAP wahlberechtigt sind.

"Sieg des Alphabets"

Eine Kuriosität der Bürgerschaftswahl findet sich auf den Stimmzetteln: Die Kandidaten sind nicht etwa nach Parteien geordnet, sondern strikt nach Alphabet. So wollen es die Briten. Dies führt zu dem Phänomen, dass Kandidaten, die vorne im Alphabet und somit weiter oben auf dem Stimmzettel stehen, eher in die Bürgerschaft gewählt werden. "Man kann beinahe sagen: An die Stelle der Persönlichkeitswahl trat der Sieg des Alphabets, wenigstens innerhalb jeder Partei", urteilt im Sommer 1947 der Autor einer Wahl-Sonderausgabe des Statistischen Landesamtes. "Die Kandidaten jeder Partei, die als erste aufgeführt waren, erhielten gewöhnlich mehr Stimmen als ihre Parteifreunde."

Das Wahlergebnis 1946

So wählten die Hamburgerinnen und Hamburger bei der Bürgerschaftswahl vom 13. Oktober 1946:

"Herbe Enttäuschung für die CDU"

Als Wahlsieger gilt die SPD - obwohl sie die angepeilte absolute Mehrheit der Stimmen deutlich verpasst. Die CDU und die FDP kommen zusammen sogar auf einen höheren Stimmenanteil. Aber aufgrund des Wahlsystems können die Sozialdemokraten mit nur 43,1 Prozent eine Dreiviertel-Mehrheit an Sitzen in der Bürgerschaft ergattern. Für die CDU hingegen endet die Wahl mit einer herben Enttäuschung. Bürgermeister Petersen hatte gehofft, dass die Wähler seinen Einsatz für die Stadt seit 1945 honorieren würden. Aber dem ist nicht so. Die Christdemokraten müssen sich mit 16 Abgeordneten begnügen. Von den 110 Sitzen in der ersten gewählten Bürgerschaft nach dem Krieg sind 93 an Männer und 17 an Frauen gegangen.

Überraschend hohe Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung liegt bei 79 Prozent. Von einer politischen Gleichgültigkeit könne also keine Rede sein, urteilen zeitgenössische Beobachter erleichtert. "Trotz der Sorge um die Kriegsgefangenen, um Ernährung und Wohnung, trotz der früheren NSDAP-Mitgliedschaft vieler Wähler und trotz der Tatsache, dass die Bürgerschaft neben der Militärregierung nur sehr eingeschränkte Machtbefugnisse besitzt, ging eine überraschend hohe Wählerzahl zur Abstimmung", schreibt ein Hamburger Wahlforscher.

Der starke Mann der SPD: Max Brauer

Bundeskanzler Konrad Adenauer (l.) wird vom Hamburger Bürgermeister Max Brauer im Hamburger Rathaus empfangen. © dpa Foto: Gerd Herold
Max Brauer bestimmt lange Zeit die Geschicke der Stadt: Im April 1953 empfängt er den Bundeskanzler Konrad Adenauer (l.) im Rathaus.

Mit dem Wahlsieg der Sozialdemokraten beginnt die Nachkriegsära von Max Brauer in Hamburg. Auf einer SPD-Versammlung kurz nach dem Urnengang wird er einstimmig und "mit Beifallsstürmen ohnegleichen" zum Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters gekürt. "Ich werde meine Kräfte restlos für die schwere Aufgabe, die meiner harrt, einsetzen", sagt Max Brauer am 21. Oktober 1946. Im Blick hat er vor allem die Bekämpfung des Hungers in der Stadt, die Schaffung von "würdigen, deutschen Wohnstätten" und den Wiederaufbau des Hafens. Das Problem der Staatsbürgerschaft bleibt für Max Brauer: Nur ein Deutscher darf Bürgermeister von Hamburg werden. Und so erhält der SPD-Politiker kurzerhand am 25. Oktober seine Einbürgerungsurkunde - aus den Händen von Noch-Bürgermeister Rudolf Petersen.

CDU bleibt außen vor

Obwohl die SPD auf keinen Regierungspartner angewiesen ist, verzichtet sie auf eine Alleinregierung. So entsteht ein Bündnis mit der FDP und der KPD. Auch die CDU soll zunächst mit an Bord sein, aber die SPD bricht die Gespräche nach kurzer Zeit ab. Die Christdemokraten hätten darauf bestanden, das Wirtschaftsressort zu übernehmen, heißt es zur Begründung. Die CDU ihrerseits behauptet, die SPD habe nie ernsthaft eine Koalition mit der CDU beabsichtigt. Drei Senatoren-Posten übernimmt die FDP, die KPD stellt einen Senator. Mit der SPD-Politikerin Paula Karpinski gehört erstmals eine Frau dem Hamburger Senat an - als Jugend-Senatorin.

"Mehr als ein Debattierklub"

Mitte November 1946 wählt der neue Senat dann Max Brauer zum Ersten Bürgermeister. "Er galt als autoritärer Charakter, nicht nur innerhalb seiner Partei", sagt Historiker Strupp im Gespräch mit NDR.de. "Und als ehemaliger US-Bürger konnte er seine Standpunkte besonders energisch gegenüber den Briten vorbringen." So forderte Brauer in seiner Regierungserklärung die Militärregierung auf, für ausreichend Lebensmittel in der Stadt zu sorgen, keinen Wohnraum zu vergeuden und Kohle nur dann zu exportieren, wenn der Mindestbedarf im Land gedeckt sei. Auch wenn die Besatzung noch einige Zeit dauern sollte: "Die neue gewählte Bürgerschaft war mehr als ein Debattierklub", sagt Strupp. Nach und nach seien Befugnisse von den Briten auf den Senat übergegangen - etwa im Justizwesen und bei der Polizei.

Drei Monate Dauerfrost: Der Hungerwinter 1946/47

Eine Mutter und ihre vier Kinder auf dem Bett in einer engen Wohnung in Hamburg 1946. © dpa - Report
Für viele Familien in Hamburg geht es lange Zeit ums nackte Überleben - vor allem im harten Winter 1946/47.

Was bei der Bürgermeisterwahl noch niemand ahnen konnte: Wenige Wochen später beginnt für die Hamburger Bevölkerung eine große Leidenszeit. Der Winter 1946/47 sollte einer der kältesten des 20. Jahrhunderts werden. Von Mitte Dezember bis Anfang März herrscht Dauerfrost - zeitweise mit Temperaturen von bis zu minus 25 Grad. 85 Menschen erfrieren, knapp 500 weitere Hamburger sterben an einer Lungenentzündung. Die Vorräte an Kohle und Lebensmittel gehen zur Neige.

Am 28. Dezember 1946 verkündet Max Brauer deshalb ein Notprogramm: Es gibt nur zwei Stunden Strom am Tag für Privathaushalte. Kinos, Theater und Schulen bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Öffentliche Verkehrsmittel fahren nur stark eingeschränkt und Geschäfte sind nur von 10 bis 15 Uhr geöffnet. Die Lage bleibt lange dramatisch, erst mit dem Tauwetter im März schöpfen die Hamburger wieder Hoffnung. Aber erst mit der Währungsreform im Sommer 1948 bessert sich der Lebensalltag grundlegend. Nun sind die Geschäfte wieder mit reichlich Waren gefüllt,und es gibt ausreichend Baumaterial für den Wiederaufbau der Stadt.

"Eine bemerkenswerte Leistung vollbracht"

Max Brauer informiert den SPD-Parteivorsitzenden Ollenhauer telefonisch über seinen Wahlsieg 1957 © picture alliance / Lothar Heidtmann Foto: Lothar Heidtmann
Max Brauer nach seinem Wahlsieg 1957: Drei Jahre später gibt er das Bürgermeisteramt an seinen Nachfolger Paul Nevermann ab.

"Die erste Bürgerschaft und der erste Senat nach dem Krieg haben angesichts der Zeitumstände eine bemerkenswerte Leistung vollbracht", urteilt später der 2011 verstorbene Hamburger Wahlforscher Walter Tormin. "Sie haben die Not vor der Währungsreform gemildert, so gut sie es vermochten."

Die SPD gewinnt auch die nächste Hamburger Bürgerschaftswahl im Oktober 1949: Max Brauer kann im Amt bleiben. Nur von 1953 bis 1957 muss er nach einer Wahlschlappe eine Zwangspause als Bürgermeister einlegen. Schließlich gibt er im Dezember 1960 sein Amt im Alter von 73 Jahren an Paul Nevermann ab. Bei seinem Abschied verleiht ihm die Universität Hamburg die Ehrendoktorwürde, die Bürgerschaft ernennt ihn zum Ehrenbürger.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 30.10.2021 | 19:30 Uhr

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