1919 dürfen erstmals alle Hamburger wählen
Wohlhabende Männer bestimmten über Jahrhunderte Hamburgs Politik. Das hat am 16. März 1919 ein Ende: Erstmals wählen in der freien und geheimen Bürgerschaftswahl alle Männer und auch Frauen das Parlament.
Bis dahin hatten nur wohlhabende Männer das Wahlrecht, obwohl sie nur fünf Prozent der Einwohner ausmachten. So blieben Kaufleute, Reeder und Fabrikbesitzer im Parlament für Jahrhunderte weitgehend unter sich und bestimmten die Politik. 1906 verschärften sie das Wahlrecht sogar noch einmal, um die Sozialdemokraten, die im Berliner Reichstag längst die stärkste Fraktion bildeten, von der Regierung fernzuhalten.
Arbeiter- und Soldatenrat schreibt Wahlen aus
Doch der verlorene Krieg und die Novemberrevolution führten Ende 1918 zur Abschaffung des alten Systems. Auch in Hamburg übernimmt ein sozialistischer Arbeiter- und Soldatenrat die Macht, der auf Drängen von bürgerlichen und SPD-Politikern jedoch bald demokratische Wahlen ausschreiben muss. Mehr als zwölf Gruppierungen treten an, neben den großen Parteien SPD, Deutsche Demokratische Partei (DDP) und Deutsche Volkspartei (DVP) auch die Friseur-Innung, ein Ausschuss für Leibesübungen und die Liste Erwerbstätiger Frauen und Mädchen.
SPD gewinnt absolute Mehrheit
Die erste freie Wahl der Hamburgischen Bürgerschaft hat genau das Resultat, das die großbürgerlichen Politiker mit dem sogenannten Wahlrechtsraub 1906 unbedingt verhindern wollten: Die SPD gewinnt mit 82 Abgeordneten die absolute Mehrheit der 160 Sitze, die linksradikale USPD kommt auf 13, die linksliberale DDP auf 33 Sitze. Die Parteien der Mitte und der Rechten stellen hingegen zusammen nicht mehr als 32 Abgeordnete und versinken in "Bedeutungslosigkeit", wie eine Zeitung schreibt.
Auch die soziale Zusammensetzung des Parlaments hat sich gewandelt: Nur noch zwölf Abgeordnete sind selbstständige Kaufleute, 15 gehören dem Mittelstand an. Die größte Gruppe bilden jetzt Angehörige gewerkschaftlicher und politischer Organisationen. Auch einige Arbeiter sind darunter. Zwar sitzen erstmals 17 Frauen in der Bürgerschaft. Doch diese Zahl wird sich in den kommenden Jahrzehnten kaum verändern. Noch 1978 beträgt ihr Anteil nur zehn Prozent.
Helene Lange eröffnet als erste Frau ein deutsches Parlament
Am 24. März tritt die neue demokratische Bürgerschaft zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Vor dem Rathaus hat sich eine dichte Menschenmenge versammelt. Bewaffnete Ordner kontrollieren am Eingang die Ausweise der Parlamentarier. Um 18.47 Uhr ist dann der historische Moment gekommen: Zum ersten Mal eröffnet in Deutschland eine Frau ein Parlament, die Anführerin der deutschen Frauenbewegung, Helene Lange. In ihrer Rede mahnt die Alterspräsidentin die Abgeordneten zur Einheit und fordert sie auf, "eine restlos demokratische Grundlage des neuen Staates zu schaffen". Dann diskutieren die Parlamentarier bis 23 Uhr über die Geschäftsordnung, Aufwandsentschädigungen und die ersten politischen Vorhaben.
Bürgerschaft übernimmt die politische Macht
Bereits zwei Tage später verabschieden sie mit 122 Ja-Stimmen ein Gesetz, mit dem eine neue Epoche beginnt. "Die Ausübung der höchsten Staatsgewalt steht der Bürgerschaft als Vertretung des hamburgischen Volkes zu." So lautet der erste Paragraf. Der Senat, der de facto jahrhundertelang die Hamburger Politik dominiert hat, wird dem Parlament untergeordnet. Auch der Arbeiter- und Soldatenrat gibt seine Macht ab, die rote Fahne über dem Rathaus wird nach vier Monaten eingeholt.
Trotz absoluter Mehrheit verzichten die Sozialdemokraten darauf, den Senat allein zu bilden. Sie teilen die Verantwortung mit Angehörigen der Vorgängerregierung und bieten sogar dem parteilosen Ersten Bürgermeister Werner von Melle die Fortsetzung seiner Tätigkeit an. So sichern sie in den unruhigen Zeiten des politischen Umbruchs Erfahrung und Sachverstand für die Hansestadt - und darüber hinaus die traditionellen Verbindungen zum Hamburger Großbürgertum.
Neue Verfassung für die Hansestadt
Die Hauptaufgabe der Abgeordneten besteht in den kommenden Monaten darin, eine neue und demokratische Verfassung auszuarbeiten. Sie tritt am 9. Januar 1921 in Kraft und festigt die politische Bedeutung des Parlaments: Die Bürgerschaft ist seitdem alleiniger Gesetzgeber, bestimmt das Budget, wählt den Ersten Bürgermeister und kontrolliert den Senat. 1933 jedoch lösen die Nationalsozialisten das Parlament gewaltsam auf. Erst 1946 kann die Bürgerschaft wieder frei gewählt werden. Sie bildet noch immer die Grundlage der Demokratie in Hamburg. Der Frauenanteil der Hamburgischen Bürgerschaft liegt derzeit bei 38 Prozent, das sind 46 von 121 Abgeordneten.