Not und Elend: So wurde Hamburg SPD-Hochburg
Der Tischler Theodor Yorck zieht 1855 von Breslau nach Hamburg - vermutlich weil er hörte, dass die Hansestadt Leute wie ihn gewähren lässt. Yorck veranstaltet Treffen, auf denen sich Arbeiter politisch bilden können, oder wenigstens erst mal Lesen und Schreiben lernen. Er versucht, eine Krankenkasse einzurichten. Ein Jahr lang hält Hamburg so einen damals aus - dann muss Yorck weiterziehen. Er geht nach Harburg, das zum Königreich Hannover gehört. Im April 1863 gründet Yorck den Harburger Allgemeinen Arbeiter-Verein. Und ein paar Wochen später reist er als Deputierter nach Leipzig. Yorck ist dabei, als sich am 23. Mai 1863 unter Ferdinand Lassalle der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gründet. Der Harburger wird sogar in den Vorstand gewählt. Die Gründung des ADAV gilt als Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie.
90-Stunden-Woche, Kinderarbeit, Hungerlöhne
Mitte des 19. Jahrhunderts läuft in Deutschland die Industrialisierung auf Hochtouren. Das bedeutet zwar Arbeit für die rasch wachsende Bevölkerung. Doch die Bedingungen, unter denen viele Menschen ihren Unterhalt bestreiten, sind menschenunwürdig. Um eine Familie zu ernähren, schaffen Arbeiter oft 90 Stunden pro Woche. Frauen und Kinder müssen zu Hungerlöhnen mitverdienen. Trotzdem können sich viele Menschen nur winzige Wohnungen in engen und schmutzigen Gassen leisten. Die traditionellen Strukturen des Zusammenlebens haben sich im Zuge der Landflucht aufgelöst. In den rasch wachsenden Städten gibt es kaum Hilfe für Menschen, die durch Krankheit oder Unfall in Not geraten. Also gründen Arbeiter Selbsthilfevereine, so wie Theodor Yorck in Harburg.
Doch viel können sie nicht ausrichten. Rasch werden die Grüppchen wieder verboten. Hamburg ist damals zwar schon eine Arbeiterstadt - aber keine Stadt der Arbeiter. Die Männer, die die Schiffe im Hafen entladen oder in den Fabriken ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, die Frauen, die sie gesund pflegen - sie haben in der Hansestadt, wie in den meisten Teilen Europas, fast nichts zu sagen. Es gibt zwar inzwischen Parlamente und Wahlen - aber das Gewicht der Wählerstimmen hängt vom Einkommen ab.
Bebel: Hamburg ist Hauptstadt des deutschen Sozialismus
Hamburg entwickelt sich rasch zu einer Hochburg der neuen Bewegung. Das liegt zum einen an der schieren Zahl der Arbeiter und Klein-Handwerker, zum anderen an der im Vergleich zum benachbarten Preußen relativ liberalen Hamburger Politik. Die aktivsten Berufsgruppen im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sind in Hamburg Schneider, Tischler, Zigarrenarbeiter und Schumacher, wie die Historikerin Helga Kutz-Bauer beschreibt. 1868 kommen zu einer Generalversammlung des ADAV in Hamburg immerhin schon 6.000 Menschen.
1869 gründen August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Anfangs konkurrieren beide Gruppen. Es streiten die radikaleren SDAPler mit den gemäßigten ADAV-Mitgliedern, und es geht um die Frage, wie ein deutscher Nationalstaat aussehen könnte. Wenn die Anhänger aufeinander treffen, kommt es schon mal zu einer Schlägerei. Erst nach dem deutsch-französischen Krieg nähern sich die Fraktionen Anfang der 1870er-Jahre einander an. Eine wichtige Vermittler-Rolle spielt der Hamburger Buchhändler August Geib, der nacheinander beiden Gruppen angehört. 1875 schließen sich ADAV und SDAP zusammen - es entsteht die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die sich 1890 umbenennt in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Hamburg wird erster Parteisitz. Denn: "Ist Berlin die Hauptstadt des Deutschen Reiches, so ist Hamburg die Hauptstadt des deutschen Sozialismus", stellt August Bebel damals fest.
Ausweisung, Aussperrung, Arbeitskampf
Doch auch in Hamburg sind die Genossen Repressionen ausgesetzt. Die Politische Polizei hat die Aktivitäten genau im Blick. Monatlich listet sie 25 bis 44 Versammlungen der SAP auf und weitere sechs bis elf Treffen des Vereins sozialdemokratischer Frauen. Erste Akten werden angelegt. 1878 nimmt die Verfolgung zu: Unter dem Eindruck zweier Attentate auf Kaiser Wilhelm I. lässt Reichskanzler Otto von Bismarck ein "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" beschließen. Es verbietet alle "sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen" Versammlungen und Vereine sowie die Gewerkschaften.
Am schlimmsten ist der Druck wieder in Berlin. Viele Genossen fliehen und lassen sich in Hamburg nieder. Dort überhitzt die Situation im Herbst 1880. Hamburg verweist 300 Sozialdemokraten der Stadt - viele von einem Tag auf den anderen. "Nicht selten blieb die Familie in Not zurück", schreibt Kutz-Bauer. 1890 werden fast 20.000 Arbeiter monatelang von ihren Betrieben ausgesperrt, weil sie für kürzere Arbeitszeiten demonstriert hatten. Die Auseinandersetzungen gipfeln 1896/97 im Hamburger Hafenarbeiterstreik, als bis zu 17.000 Arbeiter in Ausstand treten - sie verlangen vor allem mehr Geld. Doch die Arbeiter stehen einer festen Front von Unternehmern und Staat gegenüber. Nach rund zweieinhalb Monaten geben sie den Streik auf - ohne jeden Erfolg.
"Rotes Hamburg" - bis heute
Doch der politische Erfolg der SPD in Hamburg ist längst nicht mehr aufzuhalten. Die Saat, die Leute wie der Tischler Theodor Yorck gelegt haben, geht auf. Von 1890 bis zum Ende des Kaiserreiches werden alle Hamburger Mandate im Berliner Reichstag von Sozialdemokraten ausgeübt. 1890 holt die SPD bei der Reichstagswahl in Hamburg 58,7 Prozent der Stimmen. 1901 wird mit Otto Stolten der erste Sozialdemokrat in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt. 1913 sind schon 20 SPD-Politiker im Stadtparlament vertreten. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs finden 1919 die ersten wirklich allgemeinen und gleichen Wahlen in Hamburg statt - die SPD erringt 50,5 Prozent. Trotzdem verzichtet die Partei auf den Bürgermeister-Posten. "Die SPD setzte auf Kooperation und meinte auf das Fachwissen der Beamtenschaft nicht verzichten zu können", befindet der Historiker Franklin Kopitzsch. 1930 kommt dann mit Rudolf Roß erstmals ein SPD-Politiker ins Amt des Ersten Bürgermeisters. Und nach der Nazi-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg stellt die SPD zehn von den bis heute insgesamt 13 Bürgermeistern in Hamburg.