Vertrieben in die Zukunft: Neue Heimat, alte Ängste
Hunger, Kälte und Wohnungsnot: Dieses allgemeine Los durchleiden Millionen Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland besonders schmerzlich - denn willkommen sind sie nicht. Waldemar Günther aus Twistringen ist einer von ihnen.
Waldemar Günther sitzt in seinem Wohnzimmer im niedersächsischen Twistringen am Esstisch und knetet seine Hände. Das Gespräch geht ihm nahe - das wird bereits bei der Frage deutlich, ob er sich noch an seine ursprüngliche Heimat in Oberschlesien erinnern kann. 1938 wurde er in Gleiwitz geboren, einer der ältesten Städte im Oberschlesischen Industriegebiet. Gleich mehrfach musste er in seiner Kindheit erleben, wie russische Truppen den Ort einnahmen.
"Die hätten sonst auch geschossen"
"Plötzlich kamen Russen rein. Meine Mutter war draußen, die hatte Kaninchen gefüttert", erinnert er sich. "Die Russen standen auf der Treppe, mit der MP im Anschlag, sie sagten: 'Alle Hände hoch!'". Die Schwester von Waldemar Günther hatte zur Kommunion eine neue Uhr bekommen, da seien die russischen Soldaten scharf drauf gewesen. "In dem Moment kommt meine Mutter rein und sieht, wie sie ihr die Uhr wegnehmen und wollte groß Rabatz machen", so Günther. Eine Nachbarin habe sie dann zur Seite genommen und beschwichtigt. "Die hätten sonst auch tatsächlich geschossen. Ja, das war so der erste Eindruck von den Russen bei uns."
Der beschwerliche Weg in den Westen
Waldemar Günthers Eltern bleiben mit Sohn und Tochter, bis Oberschlesien unter polnische Verwaltung kommt. Dann wird die Familie ausgewiesen. Als Vertriebene machen sie sich auf einen langen und beschwerlichen Weg in Richtung Westen. "Wir kamen zuerst in einen Kohlenwagen, dann kamen Viehwagen, die waren schon mal geschlossen", erinnert sich Günther. Über Dömitz gelangt die Familie nach Uelzen - und wird erst einmal entlaust: "Wir liefen wie Bäckergesellen da rum, mit einem weißen Pulver überall." Mit einem Bundesbahnwagen geht es schließlich weiter nach Syke.
Millionen Vertriebene stoßen auf Millionen Obdachlose
Dort angekommen, versucht Günthers Familie in den kommenden Jahren, in einem Land Fuß zu fassen, das vom Krieg zerstört und von den alliierten Truppen besetzt ist. Die Versorgung ist damals - vor allem in den Städten - katastrophal. 130 deutsche Städte waren im Bombenkrieg beschossen worden, fast 30 Prozent des Wohnraums und damit mehr als dreieinhalb Millionen Wohnungen in den vier Besatzungszonen sind zerstört, rund siebeneinhalb Millionen Menschen sind obdachlos. Und nun kommen noch die Millionen Deutschen aus den Ostgebieten dazu. Ob es zwölf, 14 oder 18 Millionen sind, dazu gehen die Angaben von Historikern auseinander. Zu viele jedenfalls sind es, als dass sie in der ohnehin verheerenden Gesamtsituation schnell und umfassend versorgt werden könnten.
"Verwanzt, krank, zerbrochen an Leib und Seele"
Bis sich die Lage der Geflüchteten und Vertriebenen verbessert, vergehen zum Teil Jahre. So beklagt noch im September 1948 etwa der Landesminister für Umsiedlung und Aufbau des Landes Schleswig-Holstein, Walter Damm:
"Noch heute hausen in 411 Lägern mit 3.000 Baracken rund 90.000 Flüchtlinge. In diesen Unterkünften wohnen Menschen ohne die geringste Aussicht, jemals aus diesen Elendsquartieren in normalen Wohnraum einziehen zu können. Dass viele der Glaube an eine mögliche Umsiedlung verloren gegangen ist, kann nicht übel genommen werden. Der bauliche Zustand dieser Massenläger ist katastrophal. Verwanzt, krank, zerbrochen an Leib und Seele sind diese Menschen trotz aller Betreuungsmaßnahmen eine einzige Anklage."
"Mit der Peitsche hinter den Flüchtlingen her"
Da nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere die deutschen Städte zerstört sind, werden die Flüchtlinge vorzugsweise in ländlich strukturieren Bundesländern untergebracht: in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, im Osten Mecklenburg-Vorpommerns und auch in Bayern. Doch in Syke ist man darüber alles andere als begeistert, erinnert sich Waldemar Günther: "Die haben also Tausend Flüchtlinge aufgenommen. Das war schon eine ganze Menge."
Vielerorts sind die Einheimischen nur unter Zwang bereit, ihren knappen Wohnraum im zerstörten Land mit den Neuankömmlingen zu teilen. Auch die Syker müssen für Wohnraum sorgen - was im Umkehrschluss weitere eigene Einschränkungen bedeutet. "Wir waren nicht unbedingt die großen Lieblinge aus Ostdeutschland", so Günther. "Das muss man so sagen." Der größte Bauer von Syke habe mit den Flüchtlingen nichts im Sinn gehabt. Wenn die Felder abgeerntet waren, hätten sie dort Kartoffeln gesucht, um irgendwie über die Runden zu kommen. "Wenn der das merkte, ging der mit der Peitsche hinter den Flüchtlingen her. Es war schon seltsam."
Ressentiments und Ausgrenzung im Alltag
So ist der Krieg zwar vorbei, das NS-Regime besiegt, doch viele Vertriebene sehen sich nach ihrer Flucht in eine neue Heimat noch immer und erneut existenzieller Not und Ängsten ausgesetzt - und den Ressentiments der Alteingesessenen. Die Einheimischen stehen den Geflüchteten oftmals skeptisch bis feindlich gegenüber, vor allem in konfessionell und sozial homogenen Landstrichen. Bei einem Vertriebenen-Treffen in Oldenburg 1950 heißt es: "Uns bedrückt nicht so sehr die Enge unsere jetzigen Lebens als vielmehr der Mangel an Anerkennung als vollgütige Mitglieder der deutschen Gemeinschaft."
Sozialer Abstieg und die Frage nach dem täglichen Brot
Gleichzeitig gilt es, mit dem sozialen und wirtschaftlichen Abstieg fertig zu werden. Vor dem Krieg war weniger als die Hälfte der Vertriebenen Arbeiter, jetzt sind es in etwa drei Viertel. So auch Günthers Vater: In Oberschlesien hatte er einst eine gute Stelle als Polizist, in Syke hat er in der Nachkriegszeit große Schwierigkeiten, seine Familie zu ernähren. Um überhaupt etwas zu verdienen, putzt er in Bremen gelegentlich Steine oder Treppen. Waldemar Günther selbst sucht nach der Schule entlang der Bahngleise nach Kohlen. Seine Schwester findet schließlich Arbeit auf einem Bauernhof, sodass es auch für ihn nun regelmäßig kleinere Mahlzeiten gibt.
Wirtschaftsaufschwung kompensiert die drängendsten Probleme
Der Arbeitskräftebedarf der boomenden Industrie in den 1950er-Jahren hilft in vielen Regionen, die drängendsten Probleme zu bewältigen. Die Wirtschaft braucht qualifizierte Arbeitskräfte - und insbesondere unter den Flüchtlingen und Vertriebenen sind Leistungsbereitschaft und Aufstiegswille stark ausgeprägt. Mit der durch sprudelnde Steuereinnahmen gut gefüllten Staatskasse kann auch die öffentliche Hand in Wiederaufbau und Eingliederung der Geflüchteten investieren. Der Historiker Ulrich Herbert resümiert in seiner "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert": "Da die Bundesregierung seit Beginn des Wirtschaftsaufschwungs über genügend Finanzmittel verfügte, um diese gewaltigen Aufgaben zu bewältigen, gelang es ihr innerhalb weniger Jahre und gegen die meisten Voraussagen, diese Gruppen weitgehend zu integrieren."
Die alte Heimat? "Habe ich keinen Bezug mehr zu"
Um 1960 gilt der Integrationsprozess weitgehend als abgeschlossen. Auch für die Familie Günther geht es endlich aufwärts. Sohn Waldemar geht zur Bundeswehr und hat fortan ein geregeltes Einkommen. Mitte der 60er-Jahre geben rund drei Viertel der Flüchtlinge aus den Ostgebieten an, dass sie nicht mehr zurückkehren würden in ihre alte Heimat - auch nicht, wenn es möglich wäre. Waldemar Günther denkt heute, mit 83 Jahren und in Twistringen zu Hause, noch oft an den Hof in Gleiwitz zurück, auf dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hat: "Jetzt möchte ich gerne nochmal dahin, ja." Gerne würde er sehen, ob es noch so ist, wie es einmal war, oder ob sich was verändert hat. Doch er sagt er auch: "Aber ich habe jetzt keinen Bezug mehr dazu."