Flucht 1945: Am Anfang war die Not
Nach dem Kriegsende 1945 sind mehr als eine Million Flüchtlinge ins heutige Schleswig-Holstein gekommen. Eine Zeit, die im Nachhinein von manchen romantisiert wird - aber alles andere als leicht war.
Es ist Oktober, 1944, als "die Russen kommen". Die Geffkes sind vollkommen unvorbereitet: Vater und Sohn sind an der Front, Großmutter, Mutter und Tochter Dora kümmern sich auf dem kleinen Hof im ostpreußischen Texeln um das Vieh: "Auf dem Herd kochte noch Geflügel. Wir haben nur was auf den Wagen geschmissen, Oma oben drauf und los", erinnert sich Dora Geffke viele Jahre später. Ihrer Familie geht es wie vielen. Von den 18 Millionen Deutschen und sogenannten "Volksdeutschen", die vor dem Zweiten Weltkrieg, 1939, in den Ostprovinzen und osteuropäischen Siedlungsgebieten wohnen, haben 1947 zwischen 12 und 14 Millionen ihre Heimat verloren. Geflohen, vertrieben, deportiert. Genaue Bilanzen gibt es nicht.
Bratkartoffeln und ein vernünftiges Bett
Diejenigen, die das heutige Schleswig-Holstein erreichen, haben oft nur noch das, was sie am Leib tragen. Wie Erika Redel und ihren Verlobten, die Lisbeth Andresen am 16. Februar 1945 mit nach Hause nimmt. Als sie die Küche des kleinen Hauses in Lohe-Rickelshof bei Heide (Kreis Dithmarschen) betreten, sieht Erika den Vater mit zwei Kindern aus einer Pfanne Bratkartoffeln essen und ist erschrocken: "Das sind aber arme Leute", denkt die schwangere Frau. "Nicht mal eine Teller haben sie. Und da sagte die Frau Andresen: "Stop, stop, stop, ick bring twee hungrige Lüüd und de schalln ok noh wat hebben." Mit so viel Gastfreundschaft hat Erika nicht gerechnet. Schließlich sind sie nicht als geladene Gäste, sondern als Flüchtlinge gekommen. Sie und ihr Verlobter dürfen in der Nacht sogar im Schlafzimmer schlafen. "Es war für uns beide derart unangenehm, so gut waren die Leute hier."
Erinnerung oft schön gefärbt
In den Zeitzeugen-Archiven finden sich zahllose positive Erinnerungen wie die von Erika Redel. Erinnerungen, die die Realität im Schleswig-Holstein der Nachkriegszeit nur unzureichend wiedergeben, betont Uwe Danker, Direktor am Institut für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte: "So harmonisch, wie es gerne erzählt wird, war es keinesfalls. Die Flüchtlinge wurden überwiegend ablehnend empfangen." Dies ist laut Danker aber heute, viele Jahrzehnte später, durch die dämpfende und schönfärbende Erinnerung der Menschen und auch durch ihre Integrationserfahrung verdrängt. "Das heißt nicht, dass es keine faszinierende Hilfe und Solidarität gegeben hat und einheimische Familien auch sehr freundlich waren."
Weniges teilen
Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Einwohnerzahl Schleswig-Holsteins fast verdoppelt. In der Gemeinde Großhansdorf beispielsweise kommen auf 1.500 Einheimische 3.500 Flüchtlinge. Ganze Dörfer, wie die "Siedlung Trappenkamp" werden kurzerhand aus dem Boden gestampft. Zusammenrücken, teilen, abgeben - es wurde eng in Schleswig-Holstein.
"Nun war die Not auch bei den Einheimischen nicht gering, das sollte man nicht vergessen. Erst recht in den Städten, weil so viel Wohnraum zerstört war", erklärt Danker weiter. Und auch auf dem Land habe es durchaus Noterfahrungen gegeben. Konflikte sind damals an der Tagesordnung, denn auch die Menschen in Schleswig-Holstein haben oft kaum das Nötigste zum Leben und sollen das Wenige jetzt auch noch mit Wildfremden teilen. Mit Menschen, die da sind, obwohl sie keiner eingeladen hat.
"Die deutsche Volksgemeinschaft, die zwölf Jahre lang propagiert wurde, die zerfiel rasend schnell", erklärt Uwe Danker. "Und die deutschen Volksgenossen aus Pommern und Ostpreußen wurden plötzlich als Fremde begriffen von den einheimischen Schleswig-Holsteinern. Eine obskure Geschichte."
Zusammen gelingt der Wiederaufbau
Die Integration der Flüchtlinge wird zur größten sozialen Aufgabe für das neue Bundesland. Knapp zwei Drittel der rund 1,2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen bleiben hier - ergibt eine Volkszählung 1969. Gemeinsam gelingt der Wiederaufbau. Sogar so gut, dass die etwa 25 Jahre nach Kriegsende als "Wirtschaftswunder" in die Geschichte eingehen.
"Wir haben einfach gut zusammen gepasst - die Schleswig-Holsteiner und wir Flüchtlinge", resümiert Dora Geffke Jahrzehnte später. "Von der Landschaft und der Sprache. Und die Mentalität: Etwas herb und sehr, sehr aufrichtig. Das harmoniert hier einfach alles. Alle Not war vorbei. Es war nur noch schön."