Ottomeyer-Pflug beim Einsatz im Emsland © Kreisarchiv Emsland

Wie das Emsland vom "Armenhaus" zur Boom-Region wurde

Stand: 02.11.2021 05:00 Uhr

Keine andere niedersächsische Region erlebte nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen Strukturwandel wie das Emsland. Mithilfe des Emslandplans mauserte sich das "Armenhaus der Republik" zur Boom-Region.

von Stefanie Grossmann

Über Jahrhunderte prägt eine Sumpflandschaft das Emsland: Typisch für die Region sind ausgedehnte, oft unzugängliche, tief gelegene Hochmoore wie das Bourtanger Moor und Heidelandschaften - mit der größten Ausdehnung rund um Papenburg. Das Emsland ist bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt von Ödnis. Die bäuerliche Bevölkerung lebt unter ärmlichsten Verhältnissen, Mensch und Tier teilen sich oft noch einen Wohnraum. Um zu heizen und zu kochen, wird Torf direkt auf dem Boden abgebrannt. In den Häusern ohne Rauchabzug sorgt der dadurch entstehende Qualm für dicke Luft. Es gibt keine nennenswerten Straßen, keine Kanalisation, keine Infrastruktur und keine Industrie.

Allein der Torfabbau ist die einzige Einnahmequelle für die Bewohner dieses Landstrichs. Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Auch deshalb gilt die Region im westlichen Teil Niedersachsens damals als die unterentwickeltste Gegend Deutschlands, als das "Armenhaus der Republik".

Herausforderungen durch Flüchtlinge, Gebietsansprüche und Erdöl

Erdölförderung mit "Nickermännern" im Emsland © Kreisarchiv Emsland
Ab den 50er-Jahren gehören "Nickermänner" zum alltäglichen Bild im Emsland. Die Pumpen fördern das begehrte Öl aus der Erde ans Tageslicht.

Obwohl die Region damals so unwirtlich ist, fliehen nach Kriegsende Tausende Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten ins Emsland, rund 150.000 ziehen das Ödland den zerbombten Städten vor. Und das, obwohl es keine Arbeit, keinen Wohnraum, keine Verpflegung gibt - und das Land nicht erschlossen ist. Darüber hinaus steht die Region vor weiteren Herausforderungen: Die Niederlande beanspruchen Teile des Gebietes als Kompensation für Kriegsschäden. Dafür stellen sie einen Antrag bei den Alliierten. Bis auf wenige Grenzbegradigungen gibt es allerdings keinen nennenswerten Landgewinn für den angrenzenden Nachbarstaat. Außerdem gibt es seit 1942 bei Dalum nicht unbeträchtliche Rohstoff-Funde in Form von Erdöl, die Begehrlichkeiten nach einer Förderung wecken, besonders bei den niederländischen Nachbarn. Doch letztlich bleibt der westlich der Ems gelegene Ausläufer ein Teil Deutschlands.

Emslandplan: Größtes Wiederaufbauprogramm der Nachkriegszeit

Kate im Emsland Anfang des 20. Jahrhunderts © Kreisarchiv Emsland
Bis zur Erschließung des Emslandes lebten die Menschen hier unter ärmlichsten Verhältnissen.

Aufgrund der vielfältigen Probleme in der Region sind die politisch Verantwortlichen gezwungen zu handeln. Sie stehen vor der Aufgabe, die Rückständigkeit des Emslandes endlich umfassend zu beseitigen. Und so beschließt der Bundestag fünf Jahre nach dem Kriegsende, am 5. Mai 1950, einstimmig den Antrag zur "Erschließung der Ödländereien des Emslandes". Der sogenannte Emslandplan soll die Region für Landwirtschaft, Industrie und Flüchtlinge erschließen. Die finanziellen Mittel für das gigantische Infrastrukturprogramm sollen aus dem Bundeshaushalt kommen. Dank des Marshallplans, einem Abkommen zwischen den USA und Europa über wirtschaftliche Wiederaufbauhilfen und Fördermittel nach Kriegsende, kann das Vorhaben durchgeführt werden. Am 7. März gründen der Bund, das Land Niedersachsen und die im Erschließungsgebiet gelegenen Kreise in Hannover die Emsland GmbH. Sie soll die ambitionierten Pläne im Nordwesten Niedersachsens umsetzen. Dazu gehören die Kultivierung des Ödlandes, die Flurbereinigung, der Aufbau eines Verkehrswesens und die Anbindung an das Stromnetz.

Ottomeyer-Tiefpflüge verwandeln Torfboden in Ackerland

Zwei Männer stehen vor einem Deutschen Riesenpflug von der Firma Ottomeyer © Bundesarchiv
Riesige Tiefpflüge der Firma Ottomeyer helfen bis in die 70er-Jahre, das Emsland zu kultivieren.

Um das Emsland urbar zu machen, wühlen sich ab den 50ern gewaltige Tiefpflüge durch das schwere, feuchte Moor - gezogen von Pflug-Lokomotiven, die auch Lokomobile genannt werden. Bis in die 1970er-Jahre ist der 20 Meter lange und zehn Meter hohe Ottomeyer-Pflug, der "Mammut" mit seinen 480 PS, in der Region im Einsatz und verwandelt die abgetorften Böden in einem Kraftakt in begehrtes Ackerland. Dabei fräst der seinerzeit weltweit größte und leitungsstärkste Pflug Furchen in die Erde und holt dabei Sand von unten nach oben. Bis zu 18 Stunden lang dauern die Schichten der Arbeiter. Um möglichst effektiv arbeiten zu können, übernachten sie in Wohnwagen an den Baustellen. Auch für die Verpflegung vor Ort ist gesorgt. In einem technischen Gewaltakt werden die Moore in Nordwest-Niedersachsen trockengelegt.

Neue Siedlungen entstehen auf dem Reißbrett

Flussregulierung der Nordradde im Emsland © Kreisarchiv Emsland
Mit der Erschließung des Ödlandes gingen auch Flussbegradigungen einher - wie hier bei der Nordradde zu sehen.

Nach und nach werden in der Folge am Reißbrett ganz neue Dörfer entworfen, die aus Wohnhäusern, Handwerksbetrieben und Bauernhöfen bestehen sollen. Alte Ansiedlungen werden wiederum erweitert. Es entstehen rund 1.250 Neusiedlerhöfe und etwa 5.000 Nebenerwerbsstellen. Die neuen Industrieflächen oder Siedlungsgebiete wecken Begehrlichkeiten über das Emsland hinaus. Aus der ganzen Republik melden sich Interessierte, die sich im Emsland niederlassen wollen. Weil es mehr Bewerber als freie Flächen oder Siedlungen gibt, entscheidet oft ein Losverfahren. Dafür wird auf einem Acker auch schon mal eine Münze geworfen, wie alte Dokumente aus dieser Zeit belegen. Als die Menschen im Emsland endlich ihre Stromanschlüsse bekommen, feiern sie sogenannte Petroleum-Feste. Damit geht das Zeitalter der Petroleumlampe auch in diesem Landstrich Deutschlands zu Ende.

Phasen der Erschließung: Landwirtschaft, Kultur, Verkehr

Straßenbau im Emsland in den 50ern © Kreisarchiv Emsland
Rund 800 Kilometer Straßennetz entstehen durch die Erschließung in der Region im Nordwesten Niedersachsens.

Der 1952 gegründete Emsländische Heimatverein, später Heimatbund, bildet die Basis für die Entwicklung des kulturellen Lebens in der Region. Bis in die Moderne haben sich Traditionen wie Handwerk, Sprache und Feste in dem katholisch geprägten Landstrich bewahrt. Von Vorteil bei der Gesamterschließung sind schlanke Behördenstrukturen und emsländische Tugenden - viel Pragmatismus bringt die Modernisierung der Region voran. In der ersten Phase steht die Verbesserung der Landwirtschaft auf dem Plan - durch die Kultivierung des Ödlands lassen sich mehr Flächen nutzen und die Erträge steigern. Parallel dazu beginnt die Flurbereinigung, der Aufbau einer Kanalisation mit Verbesserung der Wasserversorgung und der Planung von Verkehrswegen. 1966 wird die Autobahn A 31 in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen - sie soll von Emden bis ins Ruhrgebiet verlaufen. Mit dem Aufbau einer kompletten Infrastruktur endet die erste Phase der Emsland-Erschließung.

Emsland GmbH fördert innovative Technik-Projekte

Da nicht alle Emsländer in der Landwirtschaft eine Beschäftigung finden, steht in der zweiten Phase der Emsland-Erschließung die Ansiedlung von Industrie und Gewerbe im Fokus. Immer wieder steht die Region vor Herausforderungen. Einem befürchteten Konjunktur-Einbruch Anfang der 70er-Jahre mit Folgen für den Beschäftigungssektor wollen die Verantwortlichen der Emsland GmbH mit der Förderung innovativer Technik-Projekte begegnen. Es ist der Start in die dritte Phase der Erschließung.

Der Transrapid: Ambitioniertes Vorzeigeprojekt scheitert

Ein Transrapid auf der Teststrecke im Emsland, aufgenommen im Oktober 1985. © picture-alliance/ dpa | Werner Schilling Foto: Werner Schilling
1985 fährt der Transrapid noch auf der Teststrecke - seit dem schweren Unglück 2006 ist das Projekt Geschichte.

Zu den innovativen Technik-Projekten der Emsland GmbH gehört die Magnetschwebebahn ''Transrapid''. Der Bau der Teststrecke auf fünf Meter hohen Stelzen beginnt 1980 in Lathen. In sieben Jahren Bauzeit entsteht ein 31,5 Kilometer langer Abschnitt. 1984 beginnt der Versuchsbetrieb. Doch 2006 endet das ehrgeizige Projekt in einer Katastrophe: Mit 170 Stundenkilometern prallt der Transrapid auf einen Werkstattwagen, 23 Menschen sterben. Nachdem der Testbetrieb zunächst ausgesetzt wird, endet er 2008 endgültig. Noch heute steht das Technik-Mahnmal inmitten der flachen Landschaft. Das Hochtechnologie-Projekt ist Geschichte. Andere Unternehmen wiederum gehören zu den Prestige-Projekten des Emslandes, wie die Meyer Werft in Papenburg, Deutschlands größter Schiffbauer. In Emsbüren steht mit "Emsflower" gar die größte Gärtnerei Europas. Und in Spelle gehört die Firma Krone zu den Weltmarktführern in der Produktion von Landmaschinen.

Emslandplan sorgt für gigantische Umstrukturierung

Seit dem 17. Jahrhundert bis in die Weimarer Republik waren Versuche, das Emsland voranzubringen, immer wieder gescheitert. Erst der Emslandplan mit der Gesamterschließung führt zum Erfolg. Insgesamt werden rund 128.000 Hektar Boden kultiviert, ein Straßennetz von 800 Kilometern geflochten, 6.800 Kilometer Vorfluter und Gräben ausgebaut sowie 700 Fluss-Kilometer reguliert. In größeren Zentren werden Industrie- und Gewerbeflächen aus dem Boden gestampft. Insgesamt investiert die Emsland GmbH von 1951 bis 1989 zwei Milliarden D-Mark. Nachdem alle Pläne umgesetzt sind, wird die Gesellschaft aufgelöst.

Nicht jede Maßnahme war nachhaltig und sinnvoll

Mancher Plan aus früheren Zeiten muss später allerdings wieder revidiert werden, wie zum Beispiel die Begradigung der Hase. Kanalisierte Flüsse haben eine höhere Fließgeschwindigkeit, die sich zum einen negativ auf die biologische Vielfalt von Fauna und Flora, die Biodiversität, auswirkt und zum anderen für Überschwemmungen sorgt. Auch Moore sind wichtig für ein funktionierendes Ökosystem. Durch den Torfabbau und die Trockenlegung der Moore werden zu wenig CO2 und Wasser gespeichert. Auch deshalb fährt das Land Niedersachsen aktuell den Abbau von Torf zurück und wandelt Moore in Naturschutzgebiete um.

Im Emsland herrscht heute nahezu Vollbeschäftigung

Keine andere Region Niedersachsens hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen solchen Strukturwandel durchlebt wie das Emsland. Dass der Plan aufging, dazu hat möglicherweise auch der Menschenschlag beigetragen: Die Emsländer gelten als bodenständig und heimatverbunden. Die Geburtenrate ist mit 1,7 Kindern gegenüber dem Bundesdurchschnitt von 1,3 Kindern vergleichsweise hoch, die Abwanderung hingegen gering. Außerdem kehren viele junge Menschen nach dem Studium zurück in ihre Heimat, bringen Ideen und Tatendrang mit. Das Durchschnittsalter liegt bei gut 42 Jahren, und mit einer Arbeitslosenquote von drei Prozent liegt dieser Teil Niedersachsens klar unter dem Bundesdurchschnitt. Keine schlechten Voraussetzungen für eine weitere Erfolgsgeschichte des Emslandes.

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Unsere Geschichte | 30.10.2021 | 12:00 Uhr

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