Otto Versand: Wie ein Schuhhändler zum Online-Konzern wurde
Das Familienunternehmen Otto gehört weltweit zu den größten Versandhändlern - mittlerweile weitgehend im Online-Geschäft. Angefangen hat alles ganz klein - in einer Baracke in Hamburg am 17. August 1949.
Die richtige Idee zur richtigen Zeit: Am 17. August 1949 startet der Unternehmer Werner Otto mit 6.000 D-Mark Kapital in einer kleinen Baracke in Hamburg-Schnelsen seinen Versandhandel. Es ist die Geburtsstunde des Otto-Versands. Damals arbeiten nur vier Mitarbeiter für den Unternehmer. Ein Jahr später erscheint der erste, 16 Seiten dünne, handgebundene Katalog in einer Auflage von gerade mal 300 Exemplaren.
Otto liefert zunächst nur den linken Schuh
Das Prinzip - die bequeme Order von zu Hause aus - ist neu, das Sortiment noch sehr übersichtlich: 28 Paar Schuhe bietet der Versandhändler an. Die Kunden erhalten nach der Bestellung zuerst den linken Schuh. Entscheiden sie sich für den Kauf, wird der zweite nachgeliefert. Bezahlt wird per Rechnung statt Nachnahme - eine Innovation. Damit trifft das kleine Unternehmen genau den Nerv der Zeit im Nachkriegsdeutschland des beginnenden Wirtschaftswunders. Schon bald wird besonders der Damenschuh "California" ein Verkaufsschlager.
Otto wird vom Schuhproduzenten zum Versandhändler
Dabei ist der Unternehmer zuvor gerade mit einer eigenen Schuhproduktion pleite gegangen. 1948 kommt der aus der Mark Brandenburg stammende Werner Otto als Flüchtling mit seiner Familie nach Hamburg. Ohne etwas von Schuhen zu verstehen, eröffnet er eine Firma. In der Nachkriegszeit, in der Schuhe dringend gebraucht werden, wird er zwar seine "Gurken", wie er die simplen Modelle tauft, reißend los. Doch mit Einführung der D-Mark und Verbesserung der Versorgungslage sind bald auch Schuhe keine Mangelware mehr und Otto muss die Produktion aufgeben.
Mit der Marineklapphose zum Trendsetter
Stattdessen konzentriert sich Werner Otto nun auf den Versandhandel. Die Schuhe ordert er von anderen Herstellern. Kurz darauf erweitert der gelernte Kaufmann sein Warenangebot um Textilien, die im Katalog 1951 erstmals angeboten werden. Besonders gut kommt bei den Kunden die Marineklapphose an: Der Otto-Versand setzt neue Trends in der Modewelt. Von da an geht es nur noch bergauf. 1953 beschäftigt Werner Otto schon 150 Mitarbeiter und setzt fünf Millionen DM um. Zwei Jahre später beträgt der Jahresumsatz satte 28 Millionen DM. Die Kunden wissen die Qualität des Warenangebots zu schätzen, blättern sich durch die immer professioneller produzierten Kataloge und nutzen die innovativen Angebote wie die Sammelbestellung mit fünf Prozent Rabatt. Das Unternehmen wächst und wächst, setzt sich gegen die Konkurrenz durch. Nach einer Zwischenstation im Hamburger Stadtteil Hamm zieht der Otto-Versand 1960 endgültig um: Das Gebäude in Bramfeld ist bis heute Stammsitz.
Die Wachstumsjahre des Otto Versands
In nur zehn Jahren schafft es Werner Otto, zu einem der führenden deutschen Versandhändler zu werden: mit 1.000 Mitarbeitern und mehr als 100 Millionen DM Umsatz. Anfang der 1960er-Jahre verschickt Otto 10.000 Pakete pro Tag.
Ab 1963 gibt es Callcenter, nun können die Kunden auch bequem per Telefon bestellen. In der Zeit von 1965 bis 1967 kann die Firma ihren Umsatz gar verdoppeln - und das nur durch die Expansion des Geschäftes.
Hermes: Eigener Paketdienst sorgt für weiteren Durchbruch
Das hohe Arbeitspensum und das stressige Leben zollen ihren Tribut. 1966 erleidet Otto einen Herzinfarkt. Die Leitung des Unternehmens gibt er an Günter Nawrath ab. Der Firmenchef zieht sich aus dem Tagesgeschäft zurück und übernimmt den Vorsitz des Aufsichtsrats. Die Firma läuft weiterhin gut, Anfang der 1970er-Jahre arbeiten schon 5.000 fest angestellte Mitarbeiter bei Otto. 1972 gibt es einen weiteren Durchbruch: Hermes kommt hinzu, der eigene Paketdienst von Otto liefert direkt ins Haus.
Stolz auf die Kinder
Mit seiner ersten Ehefrau Eva bekommt Werner Otto 1941 Tochter Ingvild und zwei Jahre später Sohn Michael. Zum zweiten Mal heiratet Werner Otto 1952: Ehefrau Jutta bringt 1957 den gemeinsamen Sohn Frank zur Welt. Die dritte Ehe geht Werner Otto im Alter von 54 Jahren ein, mit der 30 Jahre jüngeren Maren, und wird erneut Vater: von Sohn Alexander und Tochter Katharina. Seine größte Lebensleistung seien seine fünf Kinder, sagte Werner Otto einst. Heute hat diese nächste Generation der Otto-Dynastie das Sagen im Unternehmen.
Die zweite Otto-Generation
1971 steigt sein Sohn Michael Otto ins Unternehmen ein: Mit gerade 28 Jahren wird der Filius aus Werner Ottos erster Ehe Deutschlands jüngstes Vorstandsmitglied. Um von der väterlichen Firma unabhängig zu sein, besteht er aber darauf, nach dem Abitur erst mal seinen eigenen Weg zu gehen. Nach einem Studium der Volkswirtschaft arbeitet Michael in München als selbstständiger Immobilienmakler, bevor er ins väterliche Unternehmen kommt. 1981 wird er dort Vorstandsvorsitzender, 2007 zieht er sich von dem Posten zurück und ist heute Inhaber und Aufsichtsratsvorsitzender.
Er ist nicht der einzige Sohn, der im Familiengeschäft mitmischt. 2001 übernimmt Alexander Otto, Jahrgang 1967, den vom Vater im Jahr 1965 gegründeten Immobilienkonzern ECE, der sich auf das Management von Einkaufszentren spezialisiert hat. Zu dessen bekanntesten Objekten zählen die Promenaden im Leipziger Hauptbahnhof und die Potsdamer Platz Arkaden in Berlin, in Hamburg außerdem das Alstertal-Einkaufszentrum.
Die Töchter des Hauses haben sich den Künsten zugewandt: Ingvild betätigt sich jahrelang als Galeristin, eröffnet später ihr eigenes Museum. Katharina macht sich im Laufe der Jahre als Filmproduzentin einen Namen. Auch Sohn Frank wird Unternehmer - allerdings im Medien-Business -, besitzt Plattenlabels, ist an diversen privaten Radio- und Fernsehsendern beteiligt und realisiert Kunstprojekte.
Otto Versand: Mit Flexibilität zum Erfolg
Höhen und Tiefen gibt es in der Firmengeschichte immer wieder. Doch überwiegen die Erfolgserlebnisse. Über die Jahre probiert Firmengründer Werner Otto wiederholt Neues aus, eröffnet in den 1970er-Jahren etwa fünf Warenhäuser. Als diese sich nicht als rentabel erweisen, vermietet er sie kurzerhand an die Horten AG. Auch sein Versuch, eine Kette mit Autowaschanlagen zu betreiben, wirft nicht die erwartete Rendite ab, Otto veräußert sie daraufhin.
Nach dem unternehmerischen Prinzip "teile und wachse" beschafft sich Werner Otto immer wieder neues Kapital, damit sein Unternehmen expandieren kann. Stets behält er die unternehmerische Führung, nimmt aber Partner auf. Seit dem Rückkauf aller Anteile zum 31. Dezember 2007 gehört der Konzern wieder komplett der Gründerfamilie.
Im Blick: Umweltschutz und Nachhaltigkeit
In den80er-Jahren setzt Junior-Firmenchef Michael Otto mehr und mehr auf Umweltschutz und nachhaltige Waren - und nimmt damit früh eine Vorreiterrolle ein: Bereits 1986 erklärt er den Umweltschutz zum offiziellen Unternehmensziel. Der Müll wird getrennt, Pelze und schädliche Lacke werden aus dem Programm verbannt. Ab 1990 gibt es schadstoffgeprüfte Textilien im Angebot, die fünf Jahre später sogar mit dem Qualitätssiegel "hautfreundlich, weil schadstoffgeprüft" gekennzeichnet sind und damit dem Standard Öko-Tex 100 genügen. Ab 1997 spielt ökologisch produzierte Baumwolle eine große Rolle bei Otto. Durch die Umstellung von Luft- auf Schiffsverkehr beim Warentransport versucht die Firma, Energie zu sparen.
Otto.de: Online-Handel leitet neue Ära ein
Nachdem 1991 der 24-Stunden-Bestellservice eingeführt wurde, beginnt 1995 eine komplett neue Ära. Otto setzt auf das Internet und führt zügig den Online-Handel ein, geht mit otto.de an den Start. Damit wird das Unternehmen erneut Vorreiter in seiner Branche.
Während bei Otto das Online-Geschäft stetig wächst, verpasst einer der größten Konkurrenten den Trend: das Versandhaus Quelle. Das bayerische Familienunternehmen gerät in finanzielle Turbulenzen, wird vom Karstadt-Konzern übernommen und muss 2009 Insolvenz anmelden. Otto kauft den Markennamen Quelle für einen zweistelligen Millionenbetrag. Auf der Internetseite quelle.de entsteht 2011 unter Federführung der Hamburger ein Marktplatz für Online-Händler aus den Bereichen Technik und Haushalt.
Otto-Katalog wird 2018 eingestellt
Zunehmend erwirtschaftet Otto seinen Umsatz über otto.de und weitere Online-Shops. Im Jahr 2018 bestellen 97 Prozent der Kunden Unternehmensangaben zufolge im Internet. Nur noch drei Prozent nutzen Fax, Brief, Telefon oder Bestellkarten, um Waren von Otto zu ordern. Das bleibt nicht ohne Konsequenz: Im November 2018 geht der letzte Otto-Katalog in den Druck. "Unsere Kunden haben den Katalog selbst abgeschafft, weil sie ihn immer weniger nutzen und schon längst auf unsere digitalen Angebote zugreifen", resümiert damals Marc Opelt, Chef der Einzelgesellschaft Otto, des früheren Otto-Versands. Otto ist heute eine Tochtergesellschaft des Konzerns Otto Group.
Otto in Deutschland und international erfolgreich
Die Otto Group agiert mittlerweile global und hat sich breit aufgestellt. Sie unterhält nach eigenen Angaben rund 30 Unternehmensgruppen in mehr als 30 Ländern und beschäftigt rund 50.000 Mitarbeiter. Der Fokus des Geschäfts liegt auf Mode- und Lifestyle-Produkten.
Innerhalb von Deutschland gehören die Versandhäuser Baur, Heine, About You und Bonprix zum Unternehmen, ebenso der Filialist Manufactum, um nur einige zu nennen. Aber auch Finanz- und Service-Dienstleistungen gehören mittlerweile zum Portfolio des Konzerns. Im April 2024 eröffnet Otto im Stadtteil Bramfeld sein neues Hauptquartier. Die Zentrale auf neun Etagen ist eine ehemalige Lagerhalle, die für rund 100 Millionen Euro umgebaut worden ist.
Es dürfte also nicht überraschen, dass die Otto-Familie seit Jahren zu den reichsten in Deutschland gehört. Die Familie fördert Kunst, Sport und karitative Projekte. Heraklits "Panta rhei" ("Alles fließt"), Werner Ottos Lebensmotto, half ihm durch bewegte Zeiten. Sein Mut zu Neuem und eine enorme Flexibilität haben das Unternehmen geprägt. Nicht zuletzt ist dessen Erfolg wohl auch dem großen Zusammenhalt innerhalb der Unternehmerfamilie zuzuschreiben. Im Alter von 102 Jahren stirbt Werner Otto am 21. Dezember 2011 in Berlin.