Tourette-Syndrom: Symptome, Ursache und Behandlung
Das Tourette-Syndrom beginnt fast immer im Kindesalter. Betroffene haben unterschiedliche Tics. Einer davon ist, Schimpfwörter zu benutzen. Was sind die Ursachen? Welche Behandlung hilft?
Sie spucken, zucken mit dem Kopf oder schreien urplötzlich und unkontrolliert Schimpfwörter heraus: Menschen mit Tourette-Syndrom fallen durch ihre wiederholten Tics oft auf. Auch wenn sich immer mehr bekannte Persönlichkeiten - wie der schottische Sänger Lewis Capaldi oder die amerikanische Sängerin Billie Eilish - öffentlich geoutet haben: Das Umfeld reagiert auf Tourette immer noch verstört bis abweisend oder fühlt sich durch die Tics provoziert.
Tourette-Syndrom: Was ist das?
Das Tourette-Syndrom (Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, TS) ist eine angeborene, neuropsychiatrische Erkrankung. Sie gilt als eine spezielle Form von Ticstörung. Tics sind unwillkürliche kurze Bewegungen (motorische Tics) oder wiederholte Lautäußerungen (vokale Tics). Die Tics werden ohne Zusammenhang zur momentanen Situation wiederholt. Der französische Arzt Georges Gilles de la Tourette beschrieb die Erkrankung erstmals 1885 und gab ihr seinen Namen. Es gibt nur eine Form des Tourette-Syndroms, aber es gibt verschiedene Tic-Störungen. Das Tourette-Syndrom stellt im Erwachsenenalter die häufigste Tic-Störung dar. Tourette beginnt aber fast immer im Kindesalter.
Tourette-Syndrom bei Kindern
Das Tourette-Syndrom tritt in der Regel erstmals im Grundschulalter zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr auf. Bei den meisten Betroffenen bessern sich die Symptome nach der Pubertät, häufig verschwinden sie auch vollständig. Dennoch gibt es Patientinnen und Patienten, die lebenslang an Tourette-Symptomen leiden und sich mit der Erkrankung arrangieren müssen: Tourette ist nicht heilbar, aber behandelbar.
Häufig ist das Tourette-Syndrom bereits im Kindesalter von anderen Erkrankungen (Komorbiditäten) wie einer Zwangsstörung mit Zwangssymptomen, einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) begleitet. Nur rund zehn bis zwanzig Prozent der Kinder mit Tourette-Syndrom zeigen keine weitere Störung. Viele Betroffene werden von Erwachsenen nicht verstanden und von Gleichaltrigen ausgegrenzt. Sie entwickeln ein schlechtes Selbstwertgefühl und neigen verstärkt zu Depressionen und Angsterkrankungen.
Tourette-Syndrom: Die ersten Anzeichen
Zuerst zeigt das Kind motorische Tics, nach etwa zwei bis drei Jahren auch vokale Tics. Die Tics können einzeln auftreten, mit kurzen oder langen Pausen, oder auch hintereinander in Serien. Ist das Kind unter Anspannung, können die Tics gehäuft auftreten - aber auch in Phasen der Entspannung können sie urplötzlich herausbrechen. Wenn Tics erstmals auftreten, werden sie von den betroffenen Kindern oft gar nicht bemerkt. Ältere Kinder lernen in der Therapie, wie sich ein Tic ankündigt - etwa durch ein Spannungsgefühl in den Muskeln, das sich entladen muss. Junge Patienten und Patientinnen können die Tics meist nicht kontrollieren, ältere können lernen, sie zu unterdrücken.
Symptome des Tourette-Syndroms
Typische Symptome des Tourette-Syndroms sind folgende Tics:
- motorische Tics wie wiederholtes Augenzwinkern, Augenblinzeln, Aufreißen des Mundes oder der Augen, Naserümpfen, Springen, Hüpfen, Sichdrehen oder Klopfen mit dem Fuß
- vokale Tics wie plötzliche Lautäußerungen oder Geräusche wie Hüsteln, Räuspern oder Schniefen, das Wiederholen von Wörtern oder Silben, Fluchen oder obszöne Beschimpfungen
- Sonderformen von Tics wie Koprolalie (zwanghaftes Wiederholen von vulgären Worten), Kopropraxie (Zeigen obszöner Gesten), Echopraxie (Imitation von Bewegungen anderer Personen) und Palipraxie (Wiederholen von eigenen Bewegungen)
Wann sind es nur Tics, wann Tourette?
Viele Kinder haben Tics, fast eines unter 20 Kindern entwickelt irgendwann welche - vor allem Jungen. Doch wie unterscheiden Betroffene, ob es nur ein Tic ist oder ein Tourette-Syndrom? Folgende Anzeichen können bei der Unterscheidung helfen. Typisch für Tourette ist:
- das Auftreten von Tics vor dem 18. Lebensjahr
- das Auftreten von Tics in Kombination (mindestens zwei motorische Tics und ein vokaler Tic)
- motorische und vokale Tics über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr
Schweregrade des Tourette-Syndroms
Experten unterscheiden drei Schweregrade:
- Gering ausgeprägtes Tourette-Syndrom: Die Störung beeinträchtigen das Verhalten in der Schule nicht, sie wird von Außenstehenden kaum bemerkt. Es muss nicht behandelt werden.
- Mäßig ausgeprägtes Tourette-Syndrom: Die Tics fallen anderen auf und lösen in der Schule Probleme aus. Sie beeinträchtigen teilweise das Ausführen von Tätigkeiten. Zur Therapie wird geraten.
- Schwer ausgeprägtes Tourette-Syndrom: Die Tics sind ein auffälliges Merkmal der Person, sie beeinflussen Kontakte und die Leistungsfähigkeit in der Schule. Eine Therapie ist wichtig.
Ursache noch nicht vollständig geklärt
Über die Ursache von Tourette und anderen Tic-Störungen ist immer noch wenig bekannt. Man geht von einer neuronalen Störung in der Entwicklung des Gehirns aus. Sie ist vermutlich genetisch bedingt. Möglich ist, dass bakterielle Infekte mit Streptokokken Tic-Störungen begünstigen. Auch Umweltfaktoren während der Schwangerschaft - wie Stress, Medikamente, Rauchen oder Alkoholkonsum - könnten eine Rolle spielen.
Warum schimpfen Betroffene bei Tourette?
Die Koprolalie, das zwanghafte Wiederholen von obszönen Worten oder Schimpfwörtern, ist kein exklusives Symptom des Tourette-Syndroms. Es tritt auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Demenz oder schwerem Schädel-Hirn-Trauma auf. Warum die Betroffenen sich ausgerechnet in dieser Form äußern, ist nicht erforscht.
Behandlung bei Tourette-Syndrom
Bei einer leichten Form ist keine Behandlung nötig, erst bei der mäßig und schwer ausgeprägten Form findet eine Therapie statt. Sie erfolgt in der Regel durch einen Neurologen oder eine Neurologin oder durch eine Psychiaterin oder einen Psychiater. Zur Behandlung von Tourette gibt es:
- Psychotherapie (Psychoedukation), meist in Form von Verhaltenstherapie
- medikamentöse Therapie
- Neurochirurgie (Hirnstimulation), nur in sehr schweren Fällen
Eine Verhaltenstherapie wirkt meist entlastend auf das Kind und die Eltern. Folgen wie einer Angsterkrankung oder Depression kann so vorgebeugt werden. Sinnvoll ist es, wenn Lehrer einbezogen werden. Betroffene lernen, ihre Selbstkontrolle zu verbessern. Sie nehmen das den Tics vorausgehende Vorgefühl bewusst wahr, um dann eine Alternativbewegung auszuführen - das sogenannte Habit Reversal Training (HRT).
Reicht eine Verhaltenstherapie nicht aus, können zusätzlich Medikamente helfen. Mit ihnen lassen sich Tics zwar nicht heilen, aber verringern. Bei starken Tics können Neuroleptika helfen, sie haben eine dämpfende und antipsychotische Wirkung - zum Beispiel Sulpirid, Tiaprid oder Risperidon. Als Alternative kommt das atypische Antipsychotikum Aripiprazol in Betracht. Auch Medikamente auf der Basis von Cannabis können laut Studien helfen und sind gut verträglich. Auch Injektionen mit Botulinumtoxin können erwogen werden. Voraussetzung ist, dass die Tics konstant auftreten und auf einzelne, gut zugängliche Muskeln beschränkt sind. Sie sollen aber auch bei vokalen Tics helfen.
Eine neuere, vielversprechende Behandlungsmethode ist die tiefe Hirnstimulation. Dabei werden in einem chirurgischen Eingriff Elektroden im Gehirn platziert. Sie führen durch eine elektrische Stimulation zu einer Unterbrechung der Hirnfunktion an einer bestimmten Stelle. Laut einer Studie, an der auch die Berliner Charité beteiligt war, führt die tiefe Hirnstimulation zu einer Verminderung der Tics und Komorbiditäten wie Zwang, Depression, Angst und Autoaggression. Die Hirnstimulation wird nur Menschen mit schwerem Tourette-Syndrom, die alle anderen Therapie-Möglichkeiten erfolglos versucht haben, empfohlen.