Windkraft und Erdwärme: Wie die DDR mal Vorreiter war
Abhängig von Öl- und Gasimporten, steigende Preise, Umweltlasten: Ab Ende der 1970er-Jahre hatte die DDR ein Problem mit der Energieversorgung. Vor allem in den Nordbezirken wurden alternative Quellen gefunden. Erdwärme- und Windkraftprojekte leisteten Pionierarbeit.
Der Blick vom Warener Papenberg ist prächtig: die Altstadt mit mächtiger Marienkirche, der florierende Stadthafen, die glitzernde Binnenmüritz. Immer wieder kommen Gästegruppen auf den Hügel am Rande der Stadt. "Wir haben regelmäßig Besuch von überall: Chinesen, Japaner, Mitarbeiter von Shell", erzählt Hans-Udo Reimer von den Warener Stadtwerken. Er zeigt begeisterte Einträge in einem Gästebuch. Angelockt werden die Weitgereisten aber nicht von der Aussicht, sondern von einer technischen Anlage: Deutschlands erstem Erdwärme-Kraftwerk. Gebaut vor 40 Jahren versorgt es bis heute rund 1.800 Wohnungen mit Fernwärme. "Es ist immer noch eine Pionierarbeit, die wir hier leisten und wir machen sie gerne." Dass es dazu kam, war nicht ganz freiwillig.
DDR ist abhängig von sowjetischem Öl und Gas
Die Energiewirtschaft der DDR basierte stark auf dem Import von sowjetischem Erdöl und Erdgas. Als 1973 die internationale Ölkrise ausbricht, trifft das die DDR nicht sofort mit voller Härte. Anders als im Westen gibt es keine autofreien Sonntage und plötzlich steigende Energiepreise. Langfristige Verträge mit der verbündeten Sowjetunion federn den weltweiten Preisschock zunächst ab.
Zeitversetzt kommt der hohe Preis aber doch an. Von 1974 bis 1986 steigt der Importpreis für sowjetisches Erdöl um das Elffache. Wegen chronischer Devisen-Knappheit bleibt der DDR nichts anderes übrig, als weiter beim "großen Bruder" einzukaufen - obwohl der Weltmarktpreis wieder günstiger wird.
DDR zieht Mut aus Verzweiflung
Der andere Eckpfeiler der DDR-Energieversorgung ist die heimische Braunkohle. Sie wird in riesigen Tagebau-Arealen im Süden des Landes gewonnen - ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt. Doch Ende der 70er-Jahre wird klar: Die Vorräte reichen nicht ewig. Der Kohletransport Richtung Nordbezirke ist zudem aufwendig und teuer. Besonders im Winter häufen sich Probleme. "Und deshalb beschloss die Regierung 1980, intensiv nach erneuerbaren Energiequellen zu suchen", weiß der Geologe Karsten Obst vom Geologischen Landesdienst Mecklenburg-Vorpommern. Die verzweifelte Lage bringt damals Mut für Neues hervor. Eine Idee: Erdwärme.
Bohren nach heißem Wasser für Erdwärme
Dafür werden unterirdische Heißwasserquellen angezapft. Sie befinden sich Hunderte, manchmal Tausende Meter unter der Erde. Vor allem im Norden der DDR erscheint die Geothermie vielversprechend. "Man wusste aus Erdöl- und Erdgasbohrungen, dass man immer wieder geothermische Reservoire durchbohrt hat", berichtet Geologe Obst. Durch die teilweise erfolgreiche Suche nach Öl und Gas in Vorpommern gibt es zudem eine hohe Expertise für Tiefenbohrungen. Sie wird nun bei den zahlreichen Erkundungen in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg genutzt.
Tiefen-Schätze aus 1,5 Milliarden Jahren in Sternberg
Der Aufwand für die Suche nach dem heißen Wasser ist groß - die Hinterlassenschaften sind bis heute beeindruckend. Sie lagern im Bohrkernarchiv des Geologischen Landesdienstes in Sternberg. Das Archiv besteht aus drei riesigen Hallen mit scheinbar unendlichen, übermannshohen Regalen. In 70.000 Holzkisten liegen hier Kerne von etwa 400 Bohrungen auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns. Für Geologen ein wahrer Schatz: Er zeugt von 1,5 Milliarden Jahren Erdgeschichte und dokumentiert den Aufbau der Erdschichten bis in Tiefen von mehr als zwei Kilometern. Anhand der aufbewahrten Bohrkerne können Wissenschaftler beispielsweise Aussagen über das Vorkommen von Bodenschätzen treffen und die Eignung für unterirdische Lagerstätten untersuchen.
Geothermie: Beginn einer Energie-Alternative in Waren
Zielgerichtet geht Karsten Obst durch die Regalreihen und zieht eine Holzkiste heraus. Darin ein runder Sandsteinkern. Geborgen während der wohl wichtigsten Geothermie-Bohrung dieser Zeit, und zwar in Waren. In einer Tiefe von 1.560 Metern stoßen die Experten dort auf ein 63 Grad heißes Wasserbecken. Mithilfe einer zweiten Bohrung kann 1984 das Warener Heizwerk in Betrieb gehen. Ein Meilenstein nicht nur für die DDR, meint Obst: "Das war wirklich die Geburtsstunde der geothermischen Erkundung und Nutzung in Deutschland."
Heizwerk Waren: Eine Anlage mit Knoff-how
Auch Hans-Udo Reimer, der die Anlage seit Jahrzehnten betreut, ist ein bisschen Stolz anzumerken: "Es war schon Knoff-how drin. Und es wurde auch große Forschung dran betrieben. Was hält am besten? Was geht in Ordnung? Es sollte eben ein Versuch werden: Wie können wir die Energieversorgung der DDR sichern?" Ein großes Problem: der extrem hohe Salzgehalt des heißen Wassers. Dadurch rosten die Metallrohre schnell. Doch in Waren finden Ingenieure eine Lösung. Durch Zugabe von Stickstoff und einem komplett geschlossenen Kreislauf wird das Fördern beherrschbar.
Mit Windkraft in die Energie-Revolution "reingerutscht"
Ein paar Kilometer weiter nördlich tüftelt damals auch ein anderer Ingenieur an Lösungen: Joachim Pätz. Eigentlich will der Rostocker nur ein kleines Windrad für sein Eigenheim bauen. Doch aus dem Hobby-Projekt wird bald ein Riesending - das erste Windrad, das Strom in ein Großstadt-Netz einspeist. "Ich bin da so reingerutscht. Ich habe ja immer gesagt: Ich kann das gar nicht. Wie soll ich so was machen?", erinnert sich der 81-Jährige.
Seine Windrad-Idee spricht sich damals bis nach Berlin rum. Zwei Mitarbeiter des Instituts für Atomphysik, das sich auch um Windkraft-Pilotprojekte kümmert, besuchen ihn. Neben der Erdwärme wird Windenergie als weitere wichtige Alternativenergie angesehen. Auch hier spielen die Nordbezirke die wichtigste Rolle.
Material trotz Mangelwirtschaft
Zusammen mit dem Energiekombinat Nord wird die Projektion einer Versuchsanlage vereinbart - zunächst nur auf dem Papier. Doch dann entdeckt Joachim Pätz, der im Rostocker Dieselmotorenwerk arbeitet, zwei Metallrohre auf dem Betriebsgelände. "Na gut, das kannst du ja schreiben, dass ein Mast fast schon da liegt. 2 mal 12 sind 24 Meter", denkt er sich damals. Dann geht es Schlag auf Schlag. Aus dem Papier-Projekt wird Realität.
Auf der Dierkower Höhe wird eine Grube ausgehoben, ein Fundament mit 18 Kubikmeter Beton gegossen. Freunde und Kollegen helfen mit. Sie sind von der Windrad-Idee begeistert. Stahlseile, Kugellager, Generator - trotz Mangelwirtschaft findet sich für das erste große Windrad der DDR überall Material.
Propeller-Flügel vom Kampfhubschrauber
Um die Finanzierung muss sich Joachim Pätz keine Sorgen machen. Obwohl das Windrad ein privates Projekt ist und bleibt, bekommt er das Material gestellt. "'Kriegst Du von uns', haben sie gesagt. 'Solange du keinen Auftrag auslöst, musst du gar nichts bezahlen. Ganz normal. Da brauchst du gar keine Angst zu haben.'" Die Flügel für das Windrad besorgt ein Freund in Berlin. Es sind Propeller eines sowjetischen Mi-8-Kampfhubschraubers. Um sie abzuholen, baut sich Joachim Pätz einen extra langen Autoanhänger für seinen Wartburg. "Da haben wir die draufgelegt, festgebunden. Die waren 18 Meter lang. Hinten habe ich ein Fähnchen drangemacht."
Abriss nach der politischen Wende
Es sei alles ganz einfach gewesen, erzählt der Ingenieur noch heute begeistert von der Aktion. Dabei blättert er durch ein privates Fotoalbum. Darin sind unter anderem Bilder von der Montage des Windrads zu sehen. Und Joachim Pätz, wie er auf dem Ausleger des Windrads steht. Hochgehievt von einem Kran in 25 Meter Höhe - ohne Netz und doppelten Boden. Er riskiert viel für seinen Traum von der Öko-Energie. Knapp drei Jahre baut Pätz am Windrad. Im Frühsommer 1989 geht es offiziell ans Netz und liefert bis 1993 Strom. Dann muss er es wieder abreißen - auf Anordnung des Rostocker Umweltamtes.
Rückschlag für Erdwärme trotz Warnungen aus dem Westen
Auch für die Erdwärme bringt die politische Wende einen Rückschlag. Mit den positiven Erfahrungen aus der Geothermie-Anlage in Waren hatte die DDR eigentlich weitere Kraftwerke geplant: auf Usedom, in Stralsund, Neubrandenburg, Neustadt-Glewe und Schwerin. Verantwortlich dafür: der VEB Geothermie Neubrandenburg. Ende der 80er-Jahre gibt es rund 800 Beschäftigte. Plötzlich steht der Volkseigene Betrieb vor dem Aus, obwohl Experten aus der Bundesrepublik vor dem Zerschlagen warnen. Im Mai 1990 berichtet der Westdeutsche Rundfunk über "Mecklenburgs Wärmewunder". Die TV-Reporter interviewen dafür Rüdiger Schulz vom Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung: "Der VEB hat in den letzten fünf Jahren ein hohes Know-how in der Beherrschung der hoch versalzenen Wässer zur geothermischen Energienutzung aufgebaut. So was fehlt uns in der Bundesrepublik."
Volkseigener Betrieb wird zerschlagen
Doch das niedersächsische Lob verhallt ungehört. Der VEB wird aufgelöst. Verzweifelt kämpfen Nachfolge-Unternehmen um öffentliche Gelder. Im Oktober 1990 berichtet auch der Hessische Rundfunk über das unwürdige Ende der Wärme-Pioniere. Zu sehen ist unter anderem Ewald Dorn, Geschäftsführer einer der VEB-Nachfolge-Firmen. Er hatte sich unter anderem beim Ministerpräsidenten der DDR um Fördergelder bemüht, aber - wie überall - nur eine Absage kassiert: "Als Rückantwort haben wir auf 'nem kleinen Zettel den Vermerk erhalten: Bitte Finanzierung über entsprechende Kreisstelle klären." Erdwärme wird von einem Projekt mit nationaler Priorität zu einer Sache von Kreisbehörden. Sie hat keine Perspektive mehr, gilt als Zukunftstechnologie von gestern. Erkundungen werden eingestellt. Bohrtürme: verschrottet.
Totgesagte leben länger
Für die Energieversorgung wird nun an vor allem auf russisches Gas gesetzt. Das sei billig und sicher. So das Versprechen. Obwohl Mecklenburg-Vorpommerns Geologen lange und unermüdlich für die Geothermie werben: Viele Tiefenbohrungen aus der DDR-Zeit werden nach und nach dauerhaft verschlossen. Für den Geologen Karsten Obst ist Stralsund ein typisches Beispiel. Dort sei der Stadt jahrelang erfolglos eine Nutzung der vorhandenen Geothermie-Bohrungen aus DDR-Zeiten angeboten worden. Umsonst. "Paradoxerweise hat man jetzt aufgrund der Energieknappheit und der steigenden Gas- und Ölpreise die Geothermie auch in Stralsund wiederentdeckt. Aber das würde natürlich bedeuten, dass neue Bohrungen abgeteuft werden müssen." So wie in Schwerin, wo nun ein neues Geothermie-Werk in Betrieb geht.