Probleme mit dem Plan - Die Wirtschaft der 70er im Osten
Als Erich Honecker 1971 an die Spitze der SED aufrückt, verspricht er den DDR-Bürgern bessere Lebensbedingungen. Sein Motto: "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Doch das Wirtschaften nach Plan kann die DDR nur durch Kredite finanzieren.
Wenn Erwin Middelhuß aus Gelbensande bei Rostock erzählt, klingt es zunächst, als seien die 70er-Jahre in der DDR ein goldenes Zeitalter gewesen: "Wir kriegten Familienzuwachs. Wir kriegten ein Auto. Wir kriegten unser Wochenend-Grundstück. Wir kriegten unsere neue Wohnung." Allerdings sah der studierte Ökonom schon damals die Probleme, die damit verbunden waren, dass die DDR ihren Bürgern endlich mehr Lebensqualität anbieten wollte - und deshalb mehr in den Konsum als in die Produktion investierte: "Also, wir haben immer gesagt: Das kann man mal eine gewisse Zeit machen, aber das kann nicht lange Zeit gut gehen."
Politisches Ziel statt volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung
Im Mai 1971 löste Erich Honecker Walter Ulbricht an der Spitze der SED ab. Beim 8. Parteitag der SED ließ er sein Konzept einer "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" absegnen. Nachdem bisher alle Kraft in den Aufbau des Staates gesteckt worden war, sollte sich der Lebensstandard der DDR-Bürger jetzt verbessern: bessere Konsum-Möglichkeiten, mehr Sozialleistungen, höhere Löhne - und gleichzeitig weiterhin Arbeitsplätze für alle und gleichbleibende Preise.
Dahinter stand allerdings keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, sondern das politische Ziel, die Menschen in der DDR für den sozialistischen Staat zu gewinnen. Es galt nicht das marktwirtschaftliche Prinzip, dass durch höhere Produktivität mehr Konsum möglich wird, sondern Honecker und seine Genossen wollten das umdrehen: Erst sollte der Lebensstandard verbessert werden. Dadurch sollten die Leute so motiviert werden, dass dann auch die Produktivität steigt. Das hat aber nicht funktioniert.
Importe kaschieren zunächst die Fehlkalkulation
Nach Honeckers Amtsantritt hätten sich die Lebensbedingungen tatsächlich gebessert, erinnert sich Erwin Middelhuß. Er arbeitete in der VVB Hochseefischerei in Rostock, dort stieg er später auf bis zum stellvertretenden Generaldirektor und Direktor für Produktion. Die Verantwortlichen in den Betrieben merkten, dass die Rechnung nicht aufging, wenn immer mehr Geld in den Konsum floss und weniger investiert wurde. Die Bevölkerung habe es zunächst nicht gemerkt, weil vieles durch Importe aus dem Ausland ausgeglichen wurde, "aber es kam es doch zu ganz schönen Engpässen", sagt Middelhuß.
Strategien in der Mangelwirtschaft
Im Laufe der Jahre wurden die Engpässe sichtbar. Aber die Menschen in der DDR hatten Strategien entwickelt, mit der Mangelwirtschaft umzugehen: Schlange stehen. Kaufen was es gibt, auch wenn man es gerade nicht braucht, weil man es später ja vielleicht gegen etwas Notweniges tauschen kann. Oder um eine Dienstleistung zu bezahlen. Oder um eine Beziehung zu pflegen, die sich am Ende auch auszahlen kann.
Betriebe organisieren das Sozialwesen
Zunächst einmal aber verbesserte sich das Leben der DDR-Bürger - nicht nur durch das Angebot in den Läden, sondern auch durch viele Sozialleistungen. Viele Dinge, die in kapitalistischen Ländern als Privatangelegenheit betrachtet werden, wurden durch die Betriebe geregelt. Die VVB Hochseefischerei etwa habe ein hervorragendes Sozialwesen gehabt, sagt Middelhuß: "Wir hatten eine Poststelle. Wir hatten - ich sage mal - Urlaubsbetreuung. Wir hatten eine eigene Poliklinik. Wir haben einen Kindergarten bei uns drin gehabt. Wir hatten eine Kinderkrippe bei uns." Und auch Wohnungen seien über den Betrieb vermittelt worden.
Kollegialität in familienähnlichen Strukturen
Das Fischkombinat, bei dem Middelhuß gearbeitet hat, war im Norden einer der wichtigsten Arbeitgeber nach den Werften. 16.000 Beschäftigte, Standorte in Rostock und in Sassnitz und acht weitere, kleinere Verarbeitungsbetriebe in der gesamten DDR - zuständig für alles vom Fischfang bis zur Herstellung von Räucherfisch und Marinaden. Ganze Familien arbeiteten teilweise dort. Die Großeltern hatten bei der Gründung in den 50er-Jahren angefangen, dann die Eltern und in den 70er- und 80er-Jahren kamen dann auch die Kinder, erzählt Middelhuß.
Auch unabhängig von solchen echten Familienbanden habe ein eher familiäres Arbeitsklima geherrscht: "Wir haben ja auch sehr viel zusammen unternommen. Das ging los bei Ausflügen. Das ging los bei gemeinsamen Feiern. Auch die Geburtstage der jeweiligen Kollegen wurden miteinander kurz gefeiert." Und selbst die Ferien verbrachte man mit den Kollegen. "Wir hatten ja auch organisierten Urlaub. Wir hatten eigene Betriebsferien-Plätze, wo man dann mit vielen wieder zusammenkam, wo dann abends gegrillt wurde, man zusammensaß." Das gute Verhältnis der Kollegen untereinander begründet er damit, dass keiner um seinen Arbeitsplatz fürchten musste.
Der Blick in den Westen scheint zunächst Recht zu geben
So konnten die DDR-Bürger 1973, als der Westen unter der Ölkrise litt, schon glauben, dass ihr System doch das bessere ist. Sonntagsfahrverbote gab es in der DDR so wenig wie steigende Arbeitslosenzahlen. "Es wurde natürlich von der Partei und auch von der Presse und im Fernsehen ausgeschlachtet, dass es den Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite jetzt so schlecht ging", erinnert sich Middelhuß. Allerdings profitierte die DDR wie die anderen Ostblockstaaten lange Zeit von verbilligten Öl- und Gaslieferungen aus der UdSSR. Als Moskau in den 80er-Jahren diese Form der Subventionierung beendete, habe die DDR Probleme bekommen, berichtet Middelhuß.
Als Wirtschaftswissenschaftler deshalb vorschlugen, Subventionen und Sozialleistungen zu kürzen, lehnte Honecker das aus politischen Gründen ab.
Haftentlassungen gegen harte West-Währung
Die Verschuldung der DDR bei westlichen Banken nahm immer mehr zu: Ab Anfang der 80er-Jahre halfen dem Regime Milliarden-Kredite aus der Bundesrepublik. Und die SED verkaufte humanitäre Erleichterungen gegen harte West-Währung: Der "Häftlingsfreikauf", bei dem politische Gefangene gegen Devisen-Zahlungen in den Westen entlassen wurden, war ein besonders menschenverachtendes "Geschäftsmodell", das die SED-Führung immer weiter ausbaute.
Erwin Middelhuß hat sich nach der Wende selbständig gemacht. Finanziell gehe es ihm heute besser als zu DDR-Zeiten. Trotzdem seien die 20 Jahre beim Fischkombinat in beruflicher Hinsicht seine schönsten Jahre gewesen, sagt er. "Wir haben das Beste draus gemacht."