Ölkrisen und Strukturwandel - Die Wirtschaft der 70er im Westen
Nach dem langen Boom der Nachkriegszeit schockieren 1973 die erste Ölpreiskrise und Inflationsraten um die sieben Prozent die Westdeutschen - die leere Autobahn wird zum Symbol. In der Industrie kommt es zum Strukturwandel.
Leere Autobahnen: 1973 werden sie in der Bundesrepublik zum Symbol einer Krise, mit der die meisten Deutschen im Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahrzehnte kaum mehr gerechnet hatten. Hans-Ulrich Stangen, damals ein junger Werftarbeiter bei HDW in Kiel, erinnert sich noch gut. Mit autofreien Sonntagen und Tempo 100 auf Autobahnen will die Bundesregierung in der ersten Ölkrise die Energieversorgung sicher stellen. "Gut, mit meiner Ente konnte ich sowieso nur 100 fahren", räumt Stangen ein. "Aber klar war, dass man Autos durch Geschwindigkeitsreduzierung zum sparsamen Verbrauch bringen konnte." Das sei allen im Bewusstsein geblieben, die es erlebten, meint er mit Blick auf aktuelle Vorschläge zum Energiesparen.
Dunkle Wolken am Wirtschaftshimmel Anfang der 70er
Anfang der 70er-Jahre herrschte noch Optimismus. Durch die Ostverträge und Abrüstungsverträge zwischen den USA und der UdSSR entspannte sich die Lage im Kalten Krieg. Die Studentenbewegung hatte zu einem offeneren gesellschaftlichen Klima geführt. Flower-Power war im Mainstream angekommen. Aber am Wirtschaftshimmel ziehen dunkle Wolken auf: 1971 kündigt US-Präsident Nixon das Versprechen, den Dollar jederzeit in Gold zu tauschen. Die europäischen Staaten beschließen, aus dem System fester Wechselkurse zum Dollar auszusteigen. Es kommt zu einer Liberalisierung des Kapitalverkehrs und des Handels weltweit.
Öl als Waffe der OPEC: Ölpreis vervierfacht sich
1973 dann der nächste Einschnitt: Die Öl exportierenden Länder der OPEC setzen erstmals das Öl als Waffe ein. Sie verhängen ein Ölembargo gegen die USA und andere westliche Staaten, die im sogenannten Jom-Kippur-Krieg Israel gegen einen Angriff Ägyptens und Syriens unterstützten. Von September 1973 bis zum Ende des Jahres vervierfacht sich der Ölpreis von 3 auf knapp 12 Dollar - und die Unsicherheit, wie es weiter gehen wird, ist groß. Die Bundesregierung verordnet vier autofreie Sonntage und erlässt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen.
Kampf ums Gehalt wird zum Kampf um den Job
Zu Blackouts kommt es nicht. Aber Energie wird teurer - und mit ihr alle Dinge des täglichen Bedarfs. Deutschland erlebt eine seit der Währungsreform unbekannte Inflation: Ende 1973 liegt sie bei sieben Prozent. Zunächst können die Tarifpartner sie noch auffangen. "Wir haben elf Prozent mehr Geld bekommen und Arbeitszeitverkürzung", erinnert sich Hans-Ulrich Stangen. Doch da hat der Strukturwandel in Deutschland längst eingesetzt. Am Ende des Jahrzehnts kämpfen die Gewerkschaften nicht mehr um zweistellige Gehaltssteigerungen, sondern um den Erhalt von Arbeitsplätzen.
Spezialisierung gegen den Niedergang
Angesichts der steigenden Preise in Europa und der Möglichkeiten, die der liberalisierte Welthandel eröffnet, wandern Schwerindustrien und Massenfabrikation ab in die Schwellenländer. Die deutschen Unternehmen versuchen, den Niedergang mit technischer Weiterentwicklung und Spezialisierung aufzuhalten. Statt Öltanker zu bauen, entwickelt die Kieler HDW-Werft zum Beispiel Lösungen zum Transport von LNG. "Das waren damals die größten LNG-Tanker der Welt, die sogar heute noch laufen", erzählt Hans-Ulrich Stangen.
Japaner und Koreaner bauten "ungleich konkurrenzfähiger"
Doch auch in diesem Bereich können die deutschen Werften den Kampf mit der asiatischen Konkurrenz auf Dauer nicht bestehen. "Wir hier in Europa waren gewachsene Strukturen. 175 Jahre war die Werft alt und war früher mal eine Kesselschmiede, die Dampfmaschinen hergestellt hat und dann immer größer wurde", erläutert Stangen. Die Japaner und Koreaner dagegen entwickelten - wie heute die Chinesen - eine Werft am Reißbrett: "Und die wurde so gebaut wie geplant mit einer riesigen Wertschöpfungskette. Und die haben natürlich ja ungleich konkurrenzfähiger bauen können als die Europäer."
Weltwirtschaftsgipfel als Antwort auf die Globalisierung
Die Werften machen damals nur einen sehr kleinen Teil der bundesdeutschen Wirtschaft aus: Rund 0,6 Prozent ist ihr Anteil am Gesamtumsatz der deutschen Industrie Ende der 70er-Jahre. Allerdings lässt sich an ihnen wie unter einem Brennglas der Strukturwandel in der deutschen Industrie in den 70ern beobachten. Die Wirtschaftskrise Mitte des Jahrzehnts ist allerdings weltweit zu spüren - und bildet den Hintergrund dafür, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und der französische Präsident Valéry Giscard-d’Estaing 1975 den Weltwirtschaftsgipfel begründen: das Treffen der weltweit führenden Industrienationen. 1975 treffen sie sich erstmals als G6 auf Schloss Rambouillet bei Paris, dann wieder 1978 in Bonn - diesmal unter Einschluss Kanadas als G7. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Entwicklung der Wirtschaft wie auch der Finanzmärkte so global geworden war, dass ein einzelner Staat darauf kaum mehr wirksam reagieren könne - was übrigens auch zu einem Impuls für mehr europäische Integration wurde.
Arbeitslosenzahlen knacken die Millionenschwelle
Die deutsche Industrie orientiert sich damals unter dem Druck der internationalen Konkurrenz hin zu höherwertigen Spezialprodukten - im Maschinenbau ebenso wie in der optischen Industrie, in der Chemie- und Elektroindustrie wie auch beim Fahrzeug- und Flugzeugbau. Das aber stellt neue Anforderungen an die Arbeiter - und es dauert, bis der Übergang unter schwierigen konjunkturellen Bedingungen geschafft wird. Derweil steigen die Arbeitslosenzahlen: 1975 liegen sie erstmals über einer Million, Anfang der 80er-Jahre sogar bei über zwei Millionen.
Bei den Deutschen macht sich Verunsicherung breit. Hans-Ulrich Stangens Kollegen etwa verstehen nicht, warum sie nach 16 großen Öltankern nicht auch den 17. und 18. bauen können. "Und dann habe ich immer gesagt", sagt er, "das ist ganz normaler Kapitalismus. Der sucht sich aus, wo was am günstigsten produziert wird."