Öko-Hochburg Wendland: Vom Atom-Protest zum Bio-Anbau

Stand: 07.11.2021 16:15 Uhr

Die Öko-Bewegung gehört zur 75-jährigen Geschichte des Bundeslandes Niedersachsen untrennbar dazu. Mit den Anti-Atom-Protesten Ende der 70er-Jahre kommen Studenten aus den Großstädten ins Wendland und bringen ökologische Ideen mit.

Am 22. Februar 1977 überrascht der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht die Bundesrepublik mit der Entscheidung, in Gorleben im Wendland ein nationales Endlager für hochradioaktiven Atommüll und eine Wiederaufarbeitungsanlage zu errichten. Schnell formiert sich eine Protestbewegung, die nicht nur Atomkraftgegner aus der gesamten Republik, sondern insbesondere die wendländische Bevölkerung erfasst: Gemeinsam organisieren Anwohner und Atom-Kritiker Sitzstreiks auf Straßen, die nach Gorleben führen, erklimmen Bäume, die für die Bohrstelle gerodet werden sollen und organisieren mit dem sogenannten Gorleben-Treck nach Hannover eine der größten Anti-Atom-Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte. Dabei hat der gemeinsame Kampf einen Nebeneffekt: Im Zuge der Anti-Atomkraft-Bewegung keimen auch ökologische Visionen im Wendland, weil viele Menschen angesichts zunehmender Umweltverschmutzung nachhaltiger und im Einklang mit der Natur leben wollen.

Kampf gegen Atomkraft und Umweltverschmutzung

Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist damals der sichtbarste Teil der Umweltbewegung, deren Anfänge mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Schon 1899 etwa wird in Stuttgart der Bund für Vogelschutz gegründet, ein Vorläufer des Naturschutzbunds Deutschland (NABU). In den 1970er-Jahren werden Umweltthemen immer wichtiger und es entwickelt sich eine starke Protestbewegung: Nicht nur das linke Milieu stört sich an den Plänen der Regierung, die Kernenergie als Reaktion auf die Ölkrise 1973 weiter auszubauen.

Neben der Atomenergie ist es die zunehmende Umweltverschmutzung durch Industrie und Verkehr, die Menschen ganz unterschiedlicher politischer und sozialer Herkunft in den 1970er-Jahren zusammenführt. Aus der Erkenntnis, dass natürliche Ressourcen begrenzt sind, wollen sie für ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Umdenken eintreten. Sie sehnen sich nach einer Lebensweise im Einklang mit der Natur, gründen Wohngemeinschaften und Landkommunen, um nachhaltiger zu leben. Aus der Protestbewegung entstehen weitere Umweltgruppen wie zum Beispiel der 1975 gegründete Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), und auch die Grünen haben ihren Ursprung in der Umweltbewegung.

Wendland als Magnet für Umweltaktivisten

Moni Tietke © NDR
Die Studentin Moni ist eine der Demonstranten, die aus Berlin ins Wendland kommen - und sie bleibt.

Gorleben wird 1977 zum norddeutschen Zentrum der Anti-Atombewegung und zieht viele der als Öko-Spinner, Müslifresser oder Sandalenträger verschrieenen Umweltaktivisten aus den Großstädten ins Wendland. Zwar werden die Öko-Aktivisten auch dort nicht überall freundlich empfangen, doch der Kampf gegen das atomare Endlager in Gorleben eint mehr, als dass er trennt. Bei einigen der von den Atomplänen der Regierung aufgeschreckten Landwirten stoßen ihre Visionen auf offene Ohren. Viele Studenten, die zu den Protesten ins Wendland kommen, übernachten damals bei Bauern aus den Region, von denen sich immer mehr bei den Anti-Atomkraft-Demos anschließen. Sie kommen mit den Landwirten ins Gespräch und bringen sie zum Nachdenken, etwa über den massenhaften Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft.

"Müslifresser und Spinner in Sandalen": Von der Großstadt aufs Land

Moni Tietke im Gespräch mit Bauern © NDR
Die Protestler diskutieren mit den Bauern nicht nur über die Atomkraft, sondern auch über den Einsatz von Pestiziden - und stoßen bei einigen ein Umdenken an.

Einige der Großstadt-Aktivisten bleiben im Wendland, so wie die Berliner Studentin Moni, die den wendländischen Bauern Eckard Tietke heiratet. Dessen Familie beginnt damals, wie viele andere Bauern in der Region, mit dem Öko-Anbau. In der NDR Doku "Unsere Geschichte - als die Ökos in den Norden kamen" erzählen die Tietkes, wie sie mit ihren Öko-Ideen auf Widerstand stießen - aber auch, wie ihr Gemüse immer mehr Abnehmer fand. Denn nicht nur die Bewohner des Hüttendorfs "Freie Republik Wendland", mit dem Anti-Atomkraftgegner 1980 gegen die Gorleben-Pläne demonstrieren, essen die Bio-Erzeugnisse aus dem Wendland, sondern auch Anhänger der alternativen Szene in West-Berlin. "Wir waren damals die Müslifresser, die Spinner in Sandalen, in Jesuslatschen und dergleichen", erinnert sich der Berliner Öko-Aktivist Henry Humburg in der Doku. Aber das sei heute Vergangenheit: "Die Akzeptanz, die Wertschätzung ist da."

Mist, Kompost, Wind: Alternative Landwirtschaft und Energien

Auch die Bohlsener Mühle ist damals einer der Betriebe, die auf Öko umstellen. "Wir haben zwar nicht den Klimawandel vor Augen gehabt, aber wir haben die ökologischen Katastrophen vor Augen gehabt. Das Waldsterben, die Verseuchung der Flüsse, fast schlimmer als heute", erzählt Volker Krause, der den Betrieb seines Vaters damals mit Freunden übernimmt, in der NDR Doku: "Ölkatastrophen, Atomproblematik, Anti-AKW-Bewegung ging einher mit der Öko-Bewegung." Einige setzen damals neben der Landwirtschaft auch auf alternative Energien, wie Horst Wiese, der damals aus Strom aus einer selbst gebauten Windmühle und warmes Wasser mithilfe von Mist und Kompost bezieht.

Protestbewegung formiert sich auch in der DDR

Braunkohlen-Kombinat Espenhain bei Leipzig, aufgenommen 1990. © picture alliance/dpa Foto: Paul Glaser
In der DDR ist massive Umweltverschmutzung der Auslöser für eine Protestbewegung, die ab dem Ende der 1970er-Jahre immer stärker wird.

Doch nicht nur im Wendland, bis zur Wende Zonenrandgebiet an der Grenze zur damaligen DDR, auch in der DDR selbst entsteht Ende der 1970er-Jahre eine Öko-Bewegung. Auslöser ist - wie im Westen - eine massive Umweltzerstörung, etwa durch Braunkohleförderung und Uranerzabbau. In vielen Industriestätten werden Schadstoffe ungefiltert in die Luft geblasen, dazu kommen dreckige Abwässer, die die Flüsse verschmutzen, Nitratbelastungen durch die Landwirtschaft und massive Waldschäden durch sauren Regen. Vor allem junge Menschen beginnen Ende der 1970er-Jahre auch hier damit, sich verstärkt für den Umweltschutz einzusetzen - sie wollen den offiziellen Verlautbarungen, in der DDR gäbe es kein Umweltproblem, nicht mehr glauben.

Junge Bäume als Zeichen gegen Umweltverschmutzung

In Schwerin pflanzt eine Gruppe junger Leute 1979 im Rahmen eines kirchlichen Jugendwochenendes im Plattenbaugebiet "Großer Dreesch" Bäume, die von der VEB Grünanlagen geliefert werden - eine Aktion, die vielfach beachtet und auch nachgeahmt wird. Kritisch beäugt von der Stasi, gründen sich in den Folgejahren immer mehr Umweltgruppen, denen die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburg einen Schutzraum bietet. Wie die Friedensbewegung wird auch die Umweltbewegung immer stärker und ist ein wichtiger Schritt hin zur friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer.

Vorzeige-Region für Öko-Landwirtschaft und alternative Energien

Eine Luftaufnahme zeigt das Atomare Zwischenlager Gorleben im Dezember 2019. © picture alliance/Sina Schuldt/dpa Foto: Sina Schuldt
Das Zwischenlager in Gorleben: Zwischen 1995 und 2011 erreichten 13 Castor-Transporte mit hochradioaktivem Material das Transportbehälterlager.

Im ehemaligen Zonenrandgebiet Gorleben befindet sich heute ein Atommüll-Zwischenlager, das seit 1995 betrieben wird. Bis 2011 rollten unter heftigen Protesten immer wieder Transporte mit strahlender Fracht ins Wendland. Die Pläne zur Errichtung einer Wiederaufarbeitungsanlage hat die niedersächsische Landesregierung zwar schon 1979 - also zur Hoch-Zeit der Anti-Atom-Proteste, gestoppt. Jahrelang wurde die Eignung des Salzstocks als Endlager erforscht, inzwischen wurde die Erkundung aufgegeben und es wird bundesweit nach einem Standort für die dauerhafte Lagerung von hochradioaktivem Atommüll gesucht. Im September 2020 hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) bekannt gegeben, dass der Salzstock in Gorleben bei der Suche nach einem solchen nicht weiter infrage kommt.

Das Wendland steht inzwischen - neben dem Anti-Atom-Protest - für Bio-Landwirtschaft, Windkraft und nachhaltigen Tourismus. Mit fast 10.000 Hektar hat der Landkreis Lüchow-Dannenberg die größte Öko-Fläche von allen Landkreisen in Niedersachsen, und auch in Sachen erneuerbare Energien und nachhaltigem Tourismus gilt das Wendland als Vorzeige-Region.

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Dieses Thema im Programm:

Unsere Geschichte | 07.11.2021 | 01:15 Uhr

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