Eine altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine Demonstration in Waren 1989. © NDR

1989: Friedliche Revolution im Nordosten begann in Waren

Stand: 08.10.2024 05:00 Uhr

In Waren gab es am 8. Oktober 1989 die ersten Demonstrationen in Mecklenburg-Vorpommern für Demokratie und Freiheit. Wenige Tage später zogen in vielen größeren Städten im Nordosten Zehntausende über die Straßen.

Am 7. Oktober 1989, dem 40. Geburtstag der DDR, ist es in Waren (Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) noch still. In Berlin und Leipzig regt sich bereits lauter Protest gegen die Regierung der DDR. Polizei und Stasi greifen hart gegen die Demonstranten durch. Am nächsten Tag erfasst der Aufruhr auch die Stadt an der Müritz - anfangs noch ganz zaghaft. In einem Hinterhaus in der Langen Straße trifft sich im Wohnzimmer des Vikars Christoph de Boer eine kleine Gruppe von Menschen, die etwas bewegen wollen. Es ist der Beginn der Friedlichen Revolution im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. In den kommenden Wochen sind Tausende in fast allen großen Städten im Nordosten auf den Straßen. Im Zentrum der Bewegung stehen die Kirchen.

"Jetzt muss etwas passieren"

Eine altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt Waren 1989. © NDR Foto: NDR
Noch ist es ruhig in Waren 1989. Doch dann gibt es erste Proteste gegen das SED-Regime.

"Die Angst spielte damals eine große Rolle", erinnert sich de Boer später an die Ereignisse des Wendeherbstes in Waren. "Aber verbunden mit dem Willen: Jetzt muss etwas passieren. Selbst wenn die uns hinterher alle verhaften." Schon eine Woche später stehen 100 Menschen bei den de Boers vor der Haustür. Die Gruppe zieht in einen Raum der Marienkirche um.

Erzählen, was sich ändern muss

"Im Vordergrund stand die Möglichkeit, erzählen zu können - etwa was in der DDR geändert werden muss", so der Vikar. "Das war schon toll. Ganz verschiedene Menschen wollten plötzlich etwas Gemeinsames, nämlich eine veränderte, freiheitlich geprägte Deutsche Demokratische Republik", sagt die damalige Gemeindepädagogin Martina Domann. "Wir wollten ja zu Anfang gar nicht den Westen."

Die Gruppe wächst und wächst

Vikar Christoph de Boer © NDR Foto: NDR
Im Wohnzimmer von Vikar Christoph de Boer gab es die ersten Treffen.

Wieder eine Woche später platzt beim nächsten Treffen der Gemeinderaum aus allen Nähten. Die Gruppe zieht erneut um - in die Marienkirche. Kirchenmitarbeiter, Lehrer, Ärzte, Umweltschützer und Handwerker sitzen dicht an dich auf den hölzernen Bänken. Die Gruppe ist auf 300 Menschen angewachsen. Erstmals sind unter ihnen auch Parteigenossen gesehen. "Es war wohl allen klar, dass das hier jetzt der Ort ist, an dem man sich Luft machen kann", sagt Domann. Die Lehrerin Christiane Scherfig erinnert sich noch gut an die Aufbruchstimmung, die zum Greifen war. "Ich glaube, jeder, der damals zum ersten Mal dabei war, fühlte sich extrem mutig."

Von Kirche zu Kirche: Die erste Demonstration

Daneben gibt es in der Warener Georgenkirche jeden Montag Fürbitten-Gottesdienste - wie in anderen Städten auch. Am 16. Oktober 1989 ziehen im Anschluss 400 Teilnehmer mit Kerzen durch die Stadt - von der Georgen- zur Marienkirche. Beobachtet von der Stasi. Es ist die erste Demonstration im Land. De Boer erinnert sich noch gut an die Reaktion der Passanten an den Straßenseiten: von Begeisterung keine Spur. "Sondern eher Schweigen, Zurückhaltung, skeptische Blicke." Noch ist nicht jeder Warener bereit mitzugehen.

Brennende Kerzen aus Solidarität

Dennoch gewinnt die Bewegung an Kraft: Es werden immer mehr, die von Woche zu Woche mitlaufen. Wer es nicht tut, stellt aus Solidarität brennende Kerzen ins Fenster. Bald schon geht es nicht mehr zur Kirche, sondern auf den Marktplatz. Die Menschen zeigen ihren Unmut nun in aller Öffentlichkeit. Sie halten Protestplakate hoch.

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Mit "roten Köppen" im Turnhallenforum debattieren

Auch die sonntäglichen Treffen in der Marienkirche gehen weiter. Bei der Stadt werden ganz offiziell größere Räume angefragt. Die Gruppe zieht erneut um. Von der Marienkirche in eine Turnhalle in der Feldstraße, So sollen mehr Menschen angesprochen werden, an den Diskussionen teilzunehmen. Die Halle wird schließlich zum neuen Zentrum der Bewegung. Das "Turnhallenforum", wie es nun heißt, ist gut organisiert.

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Schwarzweißbild von Demonstration 1989 © NDR

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In etlichen Arbeitsgruppen werden zahlreiche Themen wie Naturschutz, Wahlgesetze oder Bildung debattiert. "Wir haben mit roten Köppen dagesessen", sagt Scherfig. "Den Anspruch, die DDR von Waren aus neu zu machen, hat damals ernsthaft niemand gehabt", meint de Boer. "Aber deutlich zu machen, dass es nicht nur Leute in Leipzig und anderen Städten sind, die sagen: Wir wollen das nicht mehr. Ihr könnt da oben nicht mehr tun und lassen, was ihr wollt."

Zehntausende ziehen im Nordosten durch die Straßen

Die Bewegung ist in allen drei Nordbezirken der DDR nicht mehr zu stoppen. In Neubrandenburg ziehen am 18. Oktober 3.000 Menschen von der Johanneskirche zum Marktplatz. Eine Woche später sind es schon 30.000. In Rostock ruft der spätere Bundespräsident Joachim Gauck, damals noch Pastor, zur ersten Demonstration auf. Am 19. Oktober ziehen 7.000 Menschen von der Marienkirche durch die Innenstadt. Auch in Schwerin flammen Proteste auf. Die sozialistische Führung versucht noch, einen Aufruf des Neuen Forums zu einer Demonstration am 23. Oktober zu sabotieren, indem sie eine eigene Kundgebung zur selben Zeit am selben Ort abhält. Als die Bürgerrechtler dort nicht sprechen dürfen, ziehen sie vom Alten Garten aus los - mit Kerzen in der Hand. Tausende Menschen folgen ihnen.

Zukunftsträchtige Entwicklungen werden angestoßen

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Der spätere Bundespräsident Joachim Gauck ruft im Oktober 1989 in Rostock zu einer Demonstration auf. (Archivbild)

Die Diskussionen im "Turnhallenforum" und den Kirchen bleiben auch in Waren nicht ohne Folgen. Das Forum besetzt später die Stasi-Zentrale in Waren, trägt zur Gründung des Müritz-Nationalparks bei und nimmt Honeckers Staatsjagd in Beschlag. "Wenn heute jemand Demokratie lernen will, sollte er sich in die Turnhalle in der Feldstraße 1989 beamen. Da kann man das lernen. Das war eine spannende Zeit", sagt Scherfig.

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Nordmagazin | 16.10.2022 | 19:30 Uhr

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